„Sind im Herzen der Menschen angekommen“
Mit einer neuen Route findet am Karfreitag der 19. Lebendige Kreuzweg in Ulm und Neu-Ulm statt. Organisator Nicola Albarino spricht über die große Prozession.
Ulm/Neu-Ulm Von Jesus wollen scheinbar immer weniger etwas wissen. Die hohen Kirchenaustrittszahlen und die vielen theologischen Streitfragen manifestieren diesen Eindruck Tag für Tag. Ob das nun die ganze Wahrheit ist? Am Karfreitag zeigt sich in Ulm und Neu-Ulm jedenfalls etwas völlig anderes. Dann strömen wieder Tausende Menschen in die Doppelstadt, um den lebendigen Kreuzweg der italienisch-katholischen Missionsgemeinde erleben zu können. Sie gehen mit, sie leiden mit und zeigen, dass es offenbar doch gar nicht so wenige sind, die Jesus tatsächlich noch als den gekreuzigten und auferstandenen Sohn Gottes anerkennen, oder ihn sympathisch finden oder zumindest ein kulturelles Interesse am wichtigsten Ergebnis der Christenheit haben.
„Seit Oktober laufen die Vorbereitungen“, sagt Nicola Albarino, der Vorsitzende des Vereins und Regisseur der „Via Crucis“. Rund 80 Darstellerinnen und Darsteller wirken bei der mittlerweile 19. Aufführung mit, insgesamt seien 180 bis 200 Personen ehrenamtlich involviert. Viele kämen aus dem Landkreis Neu-Ulm, sagt Albarino. Der 74-jährige Vincenzo Celozzi aus Nersingen ist einer von ihnen. Seit der Uraufführung 2004 engagiert sich der gebürtige Italiener für den lebendigen Kreuzweg in Ulm und spielt heuer zum siebten Mal den Petrus. „Weil ich daran glaube und weil es Teil meiner Religion ist“, sagt der Mann mit einer großen Selbstverständlichkeit. Für ihn sei das eine ganz besondere Rolle. „Petrus hat Jesus als einziger Apostel dreimal verleugnet. Aber später hat er im Gespräch selbst gemerkt, dass es falsch war.“
Celozzis Haupteinsatz wird während des Verhörs durch den Hohepriester Kajaphas am Ulmer Marktplatz sein. Von Lampenfieber keine Spur: „Wir haben zwar Emotionen, aber das zeigen wir dem Publikum nicht“, sagt der 74-Jährige. Ob er eine Zielmarke für die Anzahl der Aufführungen gesetzt hat? „Nein, das liegt in den
Händen vom lieben Gott. Und solange ich Kraft habe und Albarino das erlaubt“, sagt Celozzi lachend, „der ist ja der Chef.“
Albarino selbst steht am Karfreitag an Mischpult und Regie. Die Anziehung, die der lebendige Kreuzweg auf die unzähligen Zuschauerinnen und Zuschauer habe, spüre er jedes Jahr. Dies sei es auch, was die vielen Ehrenamtlichen des lebendigen Kreuzwegs antreibt. Dass so viele Menschen aus der Kirche ausgetreten sind, sei kein Geheimnis, sagt Albarino. Der Katholik geht davon aus: Viele glauben vielleicht trotzdem noch an den Herrgott. Und der lebendige Kreuzweg sei eine Möglichkeit, jene Menschen zu erreichen, die sonst nicht viel Kontakt zur christlichen Gemeinschaft hätten. „Ich merke das am Ende, wenn die Kreuzigung ist. Viele Leute stehen mit Tränen in den Augen da und erleben mit, was alles passiert ist. Dann wissen wir: ‘Wir sind im Herzen der Menschen angekommen’. Das ist unsere Belohnung.“
Große Änderungen gebe es heuer bei der Prozession nicht, sagt der Veranstalter, aber das sei so gewollt, weil man sich das für das 20. Jubiläum nächstes Jahr aufheben wolle. Der Ulmer Friseur Gianni Crusafio spielt wieder den Jesus, ansonsten gebe es einige neue Gesichter, dieses Jahr sogar mit fünf Deutschen. „Das freut mich unheimlich“, sagt der 61-Jährige, „wir haben nun 17 Deutsche als Darsteller.“
Der lebendige Kreuzweg verläuft 2024 wie gewohnt. Bevor es jedoch an den Ulmer Münsterplatz zur Kreuzigung geht, wurde die Route leicht verändert. Beginnend am Neu-Ulmer Marktplatz, stellt die italienische Gemeinde auf einer großen Bühne Jesu’ Fußwaschung dar. Danach begleiten die Zuschauerinnen und Zuschauer Jesus wenige Hundert Meter entlang zum Petersplatz, wo die Gefangennahme stattfindet. Hier wird er von Judas, einem seiner Jünger, verraten und anschließend von einer Horde bewaffneter Männer festgenommen. Es folgt ein Fußmarsch über die Herdbrücke, der danach links in die Herdbruckerstraße
abbiegt und auf dem Ulmer Marktplatz haltmacht. Hier wird Jesus durch den Hohepriester Kajaphas verhört, der ihn unbedingt anzeigen wollte.
Nach der dritten Station geht es ein kurzes Stück über die Kronengasse hinüber zum Weinhof vor dem Schwörhaus. Hier sieht das Publikum jene berühmte Szene, in der der römische Statthalter Pontius Pilatus vor einer wütenden und laut schreienden Menge einknickt und Jesus zum Tode verurteilt, obwohl er das selbst nicht wollte. Jesus, beziehungsweise Gianni Crusafio, muss von da an das schwere Holzkreuz tragen und wird zur „Schädelstätte“Golgatha getrieben, die in dem Fall der Ulmer Münsterplatz ist. Von da an verläuft die Route heuer neu: Über die Weinhofbergstraße geht es bergab, am Restaurant Zur Zill vorbei, durch die Unterführung der Neuen Straße und den Lautenberg Richtung Münsterplatz hoch. Vor der Raiffeisenbank biegt die Prozession in die Pfauengasse ab und verläuft über die Dreiköniggasse und die Ulmer Gasse in einem umgedrehten U, wie der Organisator erklärt. Der Schlenker sei wegen Baustellen nötig gewesen. Neu ist heuer auch die Bühne am Münsterplatz: Statt an der Seite zwischen der Deutschen Bank und dem Münsterplatz wird die Kreuzigung direkt vor dem Portal des Ulmer Münsters stattfinden. Der alte Platz sei sonst immer sehr windig gewesen.