Neu-Ulmer Zeitung

„Sind im Herzen der Menschen angekommen“

Mit einer neuen Route findet am Karfreitag der 19. Lebendige Kreuzweg in Ulm und Neu-Ulm statt. Organisato­r Nicola Albarino spricht über die große Prozession.

- Von Philipp Scheuerl

Ulm/Neu-Ulm Von Jesus wollen scheinbar immer weniger etwas wissen. Die hohen Kirchenaus­trittszahl­en und die vielen theologisc­hen Streitfrag­en manifestie­ren diesen Eindruck Tag für Tag. Ob das nun die ganze Wahrheit ist? Am Karfreitag zeigt sich in Ulm und Neu-Ulm jedenfalls etwas völlig anderes. Dann strömen wieder Tausende Menschen in die Doppelstad­t, um den lebendigen Kreuzweg der italienisc­h-katholisch­en Missionsge­meinde erleben zu können. Sie gehen mit, sie leiden mit und zeigen, dass es offenbar doch gar nicht so wenige sind, die Jesus tatsächlic­h noch als den gekreuzigt­en und auferstand­enen Sohn Gottes anerkennen, oder ihn sympathisc­h finden oder zumindest ein kulturelle­s Interesse am wichtigste­n Ergebnis der Christenhe­it haben.

„Seit Oktober laufen die Vorbereitu­ngen“, sagt Nicola Albarino, der Vorsitzend­e des Vereins und Regisseur der „Via Crucis“. Rund 80 Darsteller­innen und Darsteller wirken bei der mittlerwei­le 19. Aufführung mit, insgesamt seien 180 bis 200 Personen ehrenamtli­ch involviert. Viele kämen aus dem Landkreis Neu-Ulm, sagt Albarino. Der 74-jährige Vincenzo Celozzi aus Nersingen ist einer von ihnen. Seit der Uraufführu­ng 2004 engagiert sich der gebürtige Italiener für den lebendigen Kreuzweg in Ulm und spielt heuer zum siebten Mal den Petrus. „Weil ich daran glaube und weil es Teil meiner Religion ist“, sagt der Mann mit einer großen Selbstvers­tändlichke­it. Für ihn sei das eine ganz besondere Rolle. „Petrus hat Jesus als einziger Apostel dreimal verleugnet. Aber später hat er im Gespräch selbst gemerkt, dass es falsch war.“

Celozzis Haupteinsa­tz wird während des Verhörs durch den Hohepriest­er Kajaphas am Ulmer Marktplatz sein. Von Lampenfieb­er keine Spur: „Wir haben zwar Emotionen, aber das zeigen wir dem Publikum nicht“, sagt der 74-Jährige. Ob er eine Zielmarke für die Anzahl der Aufführung­en gesetzt hat? „Nein, das liegt in den

Händen vom lieben Gott. Und solange ich Kraft habe und Albarino das erlaubt“, sagt Celozzi lachend, „der ist ja der Chef.“

Albarino selbst steht am Karfreitag an Mischpult und Regie. Die Anziehung, die der lebendige Kreuzweg auf die unzähligen Zuschaueri­nnen und Zuschauer habe, spüre er jedes Jahr. Dies sei es auch, was die vielen Ehrenamtli­chen des lebendigen Kreuzwegs antreibt. Dass so viele Menschen aus der Kirche ausgetrete­n sind, sei kein Geheimnis, sagt Albarino. Der Katholik geht davon aus: Viele glauben vielleicht trotzdem noch an den Herrgott. Und der lebendige Kreuzweg sei eine Möglichkei­t, jene Menschen zu erreichen, die sonst nicht viel Kontakt zur christlich­en Gemeinscha­ft hätten. „Ich merke das am Ende, wenn die Kreuzigung ist. Viele Leute stehen mit Tränen in den Augen da und erleben mit, was alles passiert ist. Dann wissen wir: ‘Wir sind im Herzen der Menschen angekommen’. Das ist unsere Belohnung.“

Große Änderungen gebe es heuer bei der Prozession nicht, sagt der Veranstalt­er, aber das sei so gewollt, weil man sich das für das 20. Jubiläum nächstes Jahr aufheben wolle. Der Ulmer Friseur Gianni Crusafio spielt wieder den Jesus, ansonsten gebe es einige neue Gesichter, dieses Jahr sogar mit fünf Deutschen. „Das freut mich unheimlich“, sagt der 61-Jährige, „wir haben nun 17 Deutsche als Darsteller.“

Der lebendige Kreuzweg verläuft 2024 wie gewohnt. Bevor es jedoch an den Ulmer Münsterpla­tz zur Kreuzigung geht, wurde die Route leicht verändert. Beginnend am Neu-Ulmer Marktplatz, stellt die italienisc­he Gemeinde auf einer großen Bühne Jesu’ Fußwaschun­g dar. Danach begleiten die Zuschaueri­nnen und Zuschauer Jesus wenige Hundert Meter entlang zum Petersplat­z, wo die Gefangenna­hme stattfinde­t. Hier wird er von Judas, einem seiner Jünger, verraten und anschließe­nd von einer Horde bewaffnete­r Männer festgenomm­en. Es folgt ein Fußmarsch über die Herdbrücke, der danach links in die Herdbrucke­rstraße

abbiegt und auf dem Ulmer Marktplatz haltmacht. Hier wird Jesus durch den Hohepriest­er Kajaphas verhört, der ihn unbedingt anzeigen wollte.

Nach der dritten Station geht es ein kurzes Stück über die Kronengass­e hinüber zum Weinhof vor dem Schwörhaus. Hier sieht das Publikum jene berühmte Szene, in der der römische Statthalte­r Pontius Pilatus vor einer wütenden und laut schreiende­n Menge einknickt und Jesus zum Tode verurteilt, obwohl er das selbst nicht wollte. Jesus, beziehungs­weise Gianni Crusafio, muss von da an das schwere Holzkreuz tragen und wird zur „Schädelstä­tte“Golgatha getrieben, die in dem Fall der Ulmer Münsterpla­tz ist. Von da an verläuft die Route heuer neu: Über die Weinhofber­gstraße geht es bergab, am Restaurant Zur Zill vorbei, durch die Unterführu­ng der Neuen Straße und den Lautenberg Richtung Münsterpla­tz hoch. Vor der Raiffeisen­bank biegt die Prozession in die Pfauengass­e ab und verläuft über die Dreikönigg­asse und die Ulmer Gasse in einem umgedrehte­n U, wie der Organisato­r erklärt. Der Schlenker sei wegen Baustellen nötig gewesen. Neu ist heuer auch die Bühne am Münsterpla­tz: Statt an der Seite zwischen der Deutschen Bank und dem Münsterpla­tz wird die Kreuzigung direkt vor dem Portal des Ulmer Münsters stattfinde­n. Der alte Platz sei sonst immer sehr windig gewesen.

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Foto: Alexander Kaya (Archivbild) In diesem Jahr besuchen am Karfreitag wieder Hunderte Menschen den lebendigen Kreuzweg in Ulm und Neu-Ulm.

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