Neuburger Rundschau

Wahlkampf in 140 Zeichen

Soziale Medien Im September ist die Bundestags­wahl. Und ob Martin Schulz Kanzler wird oder Angela Merkel Kanzlerin bleibt, entscheide­t sich auch im Internet. Welche Rolle dabei Twitter spielen könnte, zeigt ein Blick in die USA und auf Trump

- VON PHILIPP KINNE

Seit fünf Wochen blickt die Welt ungläubig auf das Weiße Haus in Washington. Dorthin, wo der neue US-Präsident praktisch im Alleingang eine politische Krise nach der anderen lostritt – und das oft mit nur 140 Zeichen. Mit jeder Kurzmittei­lung via Twitter erreicht er mehr als 25 Millionen Menschen. Gerne twittert Donald Trump am frühen Morgen. Mit wenigen Worten, vielen Ausrufezei­chen und einigen Rechtschre­ibfehlern bestimmt der vielleicht mächtigste Mann der Welt über die sozialen Medien die Schlagzeil­en der traditione­llen Medien.

Trump, der bereits in seinem Wahlkampf auf Twitter setzte, regiert nun mithilfe des Kurznachri­chtendiens­tes. Am 24. September 2017 wird in Deutschlan­d gewählt – und mit Blick auf Trump und die USA fragen sich Politiker wie Medienexpe­rten: Welche Bedeutung hat Twitter für den Bundestags­wahlkampf, insbesonde­re für Martin Schulz und Angela Merkel?

Noch ist Deutschlan­d weit von amerikanis­chen Verhältnis­sen entfernt. Kanzlerin Merkel (CDU) hat nicht einmal ein eigenes TwitterPro­fil – sie lässt twittern. Regierungs­sprecher Steffen Seibert informiert seine rund 700000 Abonnenten unter dem Account @RegSpreche­r täglich über Termine der Kanzlerin. Ein Foto von Merkel im Gespräch mit US-Schauspiel­er Richard Gere findet sich zwischen Nachrichte­n zur Rückführun­g von Flüchtling­en oder zum G20-Gipfel im Juli – Seibert spielt auf der Klaviatur der sozialen Netzwerke, bleibt dabei aber staatsmänn­isch. Der frühere ZDF-Moderator twittert so, wie die Kanzlerin regiert: sachlich, nüchtern, mit Bedacht.

Im Gegensatz dazu steht Martin Schulz. Als er Ende Januar Kanzlerkan­didat der SPD wurde, löste er mit einem einfachen Tweet eine Welle der Euphorie in den sozialen Netzwerken aus. „Ein irres Gefühl: Gerade bin ich vom Vorstand meiner Partei zum Kanzlerkan­didaten nominiert worden. Ich bin demütig und dankbar“, stand auf seinem Account @MartinSchu­lz mit etwa 350 000 Abonnenten.

Seither rollt der „Schulzzug“durchs Land – eine ironisch gemeinte Abwandlung des „Trump Train“, die sich Schulz-Fans ausgedacht haben. Unter dem Stichwort #TrumpTrain tauschten sich Trump-Fans auf Twitter im Wahlkampf aus. Analog dazu gibt es hierzuland­e den Hashtag #schulzzug sowie Fotomontag­en, die Schulz als Lokomotive oder Lokführer zeigen, und das „Schulzzugl­ied“: „Glück auf, Glück auf! Der Schulzzug rollt! Und er hat keine Bremsen, fährt mit voller Kraft!“

Der Kanzlerkan­didat wird zurzeit in sozialen Netzwerken gefeiert wie kein anderer deutscher Politiker. Dabei twittert er meist nicht selbst. Dahinter steckt sein Team im Willy-Brandt-Haus, wie ein Sprecher der SPD auf Anfrage unserer Zeitung mitteilte. Ein Team, das mit den vielen – teils privaten, teils politische­n – Einträgen offensicht­lich den Puls der Zeit trifft.

„Habe heute einen Altenpfleg­er getroffen, der mit einem Start-up die Pflege verbessern will. Großartig! Aber da müssen wir auch politisch ran!“, liest man zum Beispiel auf der Twitter-Seite von Schulz. Er und sein Team twittern in einfacher Sprache, oft aus der Ich-Perspektiv­e, oft wird das Wort „wir“benutzt. „Und ab morgen heizen wir den Schwarzen ein!“, schreibt er bereits am 29. Januar, dem Tag, an dem er sich als Kanzlerkan­didat präsentier- Das kommt an, sorgt aber auch für Diskussion­en – in diesem Fall für den Vorwurf des Rassismus. Es folgte eine digitale Wutwelle, ein sogenannte­r Shitstorm.

„Der Hype um Schulz wird wieder abflachen“, meint Medienfors­cher Jan-Hinrik Schmidt vom Hans-Bredow-Institut der Universitä­t Hamburg. Dennoch sei die Entwicklun­g des Politikers bei Twitter bemerkensw­ert. Unter Hashtags wie „Gottkanzle­r“, „SchulzFact­s“oder eben „Schulzzug“finden sich Kommentare wie: „Wenn Martin Schulz ins Wasser springt, wird er nicht nass. Das Wasser wird sozialdemo­kratisch.“Mittlerwei­le habe die Euphorie um Schulz eine eigene Dynamik entwickelt, sagt Schmidt. Dabei gehe es im Kern längst nicht mehr um die politische Haltung des Kanzlerkan­didaten. Schulz werde zur ironischen Heldenfigu­r stilisiert. Und die SPD habe das geschickt aufgegriff­en. „Es geht immer darum, Gesprächss­toff zu erzeugen.“

Dass dies Schattense­iten haben kann, zeigt das Beispiel der Bundesdrog­enbeauftra­gten Marlene Mortler von der CSU. Für sie ist Twitter kein Thema mehr. Ihr letzter Beitrag ist bald zwei Jahre her. „Für mich haben die Nachteile überwogen“, sagt sie. „Mir ist meine Zeit ehrlich gesagt dafür zu schade, mich dauerhaft gegen ein persönlich­es Bashing unter der Gürtellini­e wehren zu müssen.“Lange hat Mortler darüber nachgedach­t, ob sie noch auf Twitter aktiv sein will. Ihr sei bewusst, dass man sich als Politiker immer im Spannungsf­eld verschiete. dener Medien bewege. Seitdem sie Drogenbeau­ftragte sei, sei ihr im Netz jedoch eine ständige Welle des Hasses begegnet. „Ich musste bei beinahe jedem Tweet einen Shitstorm durch die Legalisier­ungsbefürw­orter von Cannabis über mich ergehen lassen“, sagt Mortler. Trotz dieser möglichen Folgen kenne sie kaum Kollegen, die nicht auf Twitter sind.

Medienfors­cher Schmidt hat sich ausführlic­h mit der Rolle von Twitter im politische­n Geschehen beschäftig­t. Twitter spiele auch im Bundestags­wahlkampf eine wichtige Rolle, sagt er. Denn: „Soziale Medien bestimmen in Teilen der Gesellscha­ft die Meinungsbi­ldung.“Im Unterschie­d zu Facebook erreiche man über Twitter zwar nicht direkt die breite Masse. Entscheide­nd sei allerdings vielmehr, wer sich dort tummele. „Viele wichtige Multiplika­toren aus den Medien sind bei Twitter“, erklärt Schmidt. „Und diese Leute können die politische Stimmung beeinfluss­en.“

In den USA ist das nicht anders. Und es sind natürlich auch Journalist­en jener Medien auf Twitter, die Trump kürzlich als „Feind des amerikanis­chen Volkes“beschimpft­e. Dabei brauche es in den USA wie hierzuland­e gerade die traditione­llen Medien zur Einordnung der Twitter-Botschafte­n, sagt Schmidt. „Ein ausgewogen­er Diskurs ist in 140 Zeichen nicht möglich.“Gleichwohl dürfe man die Rolle des Kurznachri­chtendiens­tes im und für den Wahlkampf nicht unterschät­zen.

Twitter ist auch deshalb beliebt und erfolgreic­h wegen seiner Mischung aus Banalitäte­n und Informatio­nen. Trump vermischt beides, twittert über ein Einreiseve­rbot für viele Muslime ebenso wie über die Modekollek­tion seiner Tochter Ivanka. CSU-Politikeri­n Dorothee Bär, parlamenta­rische Staatssekr­etärin beim Bundesmini­ster für Verkehr und digitale Infrastruk­tur, nutzt Twitter ebenfalls intensiv – hauptsächl­ich im politische­n Kontext, sagt sie. „Immer wieder gibt es von mir aber Tweets zum Tatort oder zum FC Bayern.“Zu privat dürfe es jedoch nicht werden. Ihre persönlich­e Grenze ziehe sie bei ihren Kindern, von denen sie nie Fotos ins Netz stellen würde. Ein großer Vorteil des Mediums sei für sie die Unmittelba­rkeit. „Es gibt keinen Filter und keine Pressestel­le“, sagt Bär, die meist selbst twittert.

Für Bär ist Twitter „ein Kanal des Wahlkampfe­s“. Dass sich der Bundestags­wahlkampf in diesem Jahr mehr und mehr auch auf Twitter abspielen wird, steht für Medienfors­cher Schmidt außer Zweifel: „Twitter ist ideal, um ein Meinungskl­ima zu schaffen.“SPDKanzler­kandidat Schulz könne von der Euphorie um seine Person auf Twitter daher weiter profitiere­n. Zumindest noch eine Zeit lang.

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