Wohin will Martin Schulz das Land führen?
Leitartikel Der Kanzlerkandidat hat die SPD aus dem 20-Prozent-Turm befreit und nach links gerückt. Nun braucht der Überflieger Antworten auf viele offene Fragen
Martin Schulz fegt wie ein Orkan über die Parteienlandschaft hinweg. Seit der frühere Bürgermeister von Würselen die bundespolitische Bühne betreten und das Kommando bei der SPD übernommen hat, werden die Karten in der deutschen Politik neu gemischt.
Wenn die Umfragen nicht täuschen, dann hat die SPD mit ihrem neuen Kanzlerkandidaten binnen kurzem den riesigen Vorsprung der Union wettgemacht. Was eben noch unmöglich schien, die Wiederauferstehung der SPD als stärkste Kraft im Bundestag mit dem Anspruch auf die Regierungsbildung, ist nun kein Hirngespinst mehr, sondern im Bereich des Möglichen. Und Angela Merkel hat es plötzlich mit einem Herausforderer zu tun, der nicht auf Platz, sondern auf Sieg spielt und – was den Leuten imponiert – den Willen zur Macht ausstrahlt. Die Verhältnisse sind ins Tanzen geraten, weil Schulz über die Gabe verfügt, sowohl in den Revieren der anderen Parteien zu wildern als auch viele jener Bürger anzusprechen, die bei der Wahl 2013 aus Verdruss oder Desinteresse daheim geblieben sind.
Das Comeback der SPD geht auf Kosten aller anderen Parteien. Nicht nur die auf kaltem Fuß erwischte Union und die orientierungslos wirkenden Grünen büßen an Zustimmung ein. Auch Linkspartei und AfD, die Sammelbecken von Protestwählern, müssen Federn lassen. Schulz präsentiert sich mit einigem populistischem Geschick als Schutzpatron der kleinen Leute, der denen da oben gehörig den Marsch bläst und dafür sorgt, dass es wieder „gerechter“zugeht im Land. Schulz redet, was die Fakten gar nicht hergeben, von dramatisch wachsender sozialer Ungleichheit. Er verspricht die Rückabwicklung jener Schröderschen Reformen, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dass Deutschland heute wirtschaftlich prima dasteht. Er tut so, als ob die SPD in den vergangenen Jahren in der Opposition gewesen sei.
Für den Augenblick geht die Rechnung auf. Die SPD, die noch immer unter der von Schulz als neoliberal geschmähten „Agenda 2010“leidet, liegt dem Kandidaten zu Füßen. Was den Merkel-Herausforderern Steinmeier und Steinbrück misslang, schafft Schulz mit seiner Rolle rückwärts im Handumdrehen: Er holt etliche jener Wähler zurück, die sich von der traditionellen Arbeiterpartei SPD nicht mehr vertreten fühlten. Der Linksruck befreit die alte Volkspartei aus dem 20-Prozent-Turm, in den sie lange einbetoniert war. Das strategische Risiko dieser Operation besteht darin, dass die SPD in der Mitte der Gesellschaft mehr verliert, als sie links davon gewinnen kann. Auch Steinbrück ist 2013 mit dem Thema soziale Gerechtigkeit angetreten und gescheitert – weil die SPD am Ende als Steuererhöhungsund Umverteilungspartei daherkam, die sich weniger um die Schaffung von Jobs als um den Ausbau des Sozialstaats kümmerte.
Wie weit der Höhenflug unter Schulz tatsächlich trägt, wird sich bei der nordrhein-westfälischen Generalprobe für die Bundestagswahl erweisen. Spätestens bis dahin wird Schulz darlegen müssen, was er – über die wirtschaftspolitisch brandgefährliche Demontage der Agenda 2010 hinaus – im Schilde führt. Noch ist ja völlig unklar, wie er zu den großen, die Mehrheit des Volkes bewegenden Fragen steht: der Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik, der inneren Sicherheit, der Zukunft Europas. Wie hält er es mit den Steuern, wie mit den dringend nötigen Investitionen in Bildung und Digitalisierung? Wohin und mit wem (auch der Linkspartei?) will Schulz das Land führen? Gut möglich, dass nach Beantwortung dieser Fragen die Schulz-Welle an Wucht verliert und die Kanzlerin wieder Oberwasser gewinnt.
Steinbrück ist mit diesem Thema gescheitert