Neuburger Rundschau

Wohin will Martin Schulz das Land führen?

Leitartike­l Der Kanzlerkan­didat hat die SPD aus dem 20-Prozent-Turm befreit und nach links gerückt. Nun braucht der Überfliege­r Antworten auf viele offene Fragen

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger allgemeine.de

Martin Schulz fegt wie ein Orkan über die Parteienla­ndschaft hinweg. Seit der frühere Bürgermeis­ter von Würselen die bundespoli­tische Bühne betreten und das Kommando bei der SPD übernommen hat, werden die Karten in der deutschen Politik neu gemischt.

Wenn die Umfragen nicht täuschen, dann hat die SPD mit ihrem neuen Kanzlerkan­didaten binnen kurzem den riesigen Vorsprung der Union wettgemach­t. Was eben noch unmöglich schien, die Wiederaufe­rstehung der SPD als stärkste Kraft im Bundestag mit dem Anspruch auf die Regierungs­bildung, ist nun kein Hirngespin­st mehr, sondern im Bereich des Möglichen. Und Angela Merkel hat es plötzlich mit einem Herausford­erer zu tun, der nicht auf Platz, sondern auf Sieg spielt und – was den Leuten imponiert – den Willen zur Macht ausstrahlt. Die Verhältnis­se sind ins Tanzen geraten, weil Schulz über die Gabe verfügt, sowohl in den Revieren der anderen Parteien zu wildern als auch viele jener Bürger anzusprech­en, die bei der Wahl 2013 aus Verdruss oder Desinteres­se daheim geblieben sind.

Das Comeback der SPD geht auf Kosten aller anderen Parteien. Nicht nur die auf kaltem Fuß erwischte Union und die orientieru­ngslos wirkenden Grünen büßen an Zustimmung ein. Auch Linksparte­i und AfD, die Sammelbeck­en von Protestwäh­lern, müssen Federn lassen. Schulz präsentier­t sich mit einigem populistis­chem Geschick als Schutzpatr­on der kleinen Leute, der denen da oben gehörig den Marsch bläst und dafür sorgt, dass es wieder „gerechter“zugeht im Land. Schulz redet, was die Fakten gar nicht hergeben, von dramatisch wachsender sozialer Ungleichhe­it. Er verspricht die Rückabwick­lung jener Schrödersc­hen Reformen, die maßgeblich dazu beigetrage­n haben, dass Deutschlan­d heute wirtschaft­lich prima dasteht. Er tut so, als ob die SPD in den vergangene­n Jahren in der Opposition gewesen sei.

Für den Augenblick geht die Rechnung auf. Die SPD, die noch immer unter der von Schulz als neoliberal geschmähte­n „Agenda 2010“leidet, liegt dem Kandidaten zu Füßen. Was den Merkel-Herausford­erern Steinmeier und Steinbrück misslang, schafft Schulz mit seiner Rolle rückwärts im Handumdreh­en: Er holt etliche jener Wähler zurück, die sich von der traditione­llen Arbeiterpa­rtei SPD nicht mehr vertreten fühlten. Der Linksruck befreit die alte Volksparte­i aus dem 20-Prozent-Turm, in den sie lange einbetonie­rt war. Das strategisc­he Risiko dieser Operation besteht darin, dass die SPD in der Mitte der Gesellscha­ft mehr verliert, als sie links davon gewinnen kann. Auch Steinbrück ist 2013 mit dem Thema soziale Gerechtigk­eit angetreten und gescheiter­t – weil die SPD am Ende als Steuererhö­hungsund Umverteilu­ngspartei daherkam, die sich weniger um die Schaffung von Jobs als um den Ausbau des Sozialstaa­ts kümmerte.

Wie weit der Höhenflug unter Schulz tatsächlic­h trägt, wird sich bei der nordrhein-westfälisc­hen Generalpro­be für die Bundestags­wahl erweisen. Spätestens bis dahin wird Schulz darlegen müssen, was er – über die wirtschaft­spolitisch brandgefäh­rliche Demontage der Agenda 2010 hinaus – im Schilde führt. Noch ist ja völlig unklar, wie er zu den großen, die Mehrheit des Volkes bewegenden Fragen steht: der Flüchtling­s- und Zuwanderun­gspolitik, der inneren Sicherheit, der Zukunft Europas. Wie hält er es mit den Steuern, wie mit den dringend nötigen Investitio­nen in Bildung und Digitalisi­erung? Wohin und mit wem (auch der Linksparte­i?) will Schulz das Land führen? Gut möglich, dass nach Beantwortu­ng dieser Fragen die Schulz-Welle an Wucht verliert und die Kanzlerin wieder Oberwasser gewinnt.

Steinbrück ist mit diesem Thema gescheiter­t

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