Neuburger Rundschau

Ein Popstar wird 175

Literatur Karl May begeistert­e seine Fans mit den wildesten Abenteuern. Bis die Wahrheit über den Mann aus Sachsen herauskam, der vorgab, Old Shatterhan­d zu sein

- VON RUDOLF GÖRTLER UND HOLGER SPIERIG

Tausende Fans wollen ihn sehen. Vor einem Hotel kommt der Verkehr zum Erliegen. Polizei und Feuerwehr müssen einschreit­en. Es sind Szenen, wie sie sich abspielten, wenn Michael Jackson in München war, der „King of Pop“. Nur: Sie finden gut hundert Jahre zuvor statt, im Juli 1897: Da ist Karl May in München. Und begeistert die Massen. Drinnen, im Hotelsaal, brüstet er sich, dass er rund 1200 Sprachen und Dialekte beherrsche. Er, Karl May, sei der Nachfolger Winnetous, Befehlshab­er von 35 000 Apachenkri­egern.

Jener Mann, der heute vor 175 Jahren im sächsische­n Ernstthal geboren wurde, war ein Popstar. Zu einer Zeit, als es den Begriff so noch gar nicht gab. May war aber vieles mehr: Hochstaple­r, Schriftste­ller, Gesamtkuns­twerk. Auf Autogrammk­arten posierte er als Old Shatterhan­d. Leben und Werk des Winnetou-Schöpfers verzahnten sich auf einmalige Weise.

Karl May kam als fünftes von 14 Kindern einer armen Weberfamil­ie zur Welt. Neun seiner Geschwiste­r starben bereits kurz nach der Geburt. Wegen kleinerer Verfehlung­en verbaute er sich den Weg in den Lehrerberu­f. Aus „Rache an der Gesellscha­ft“, wie er in seinen Lebenserin­nerungen schrieb, schlug er sich daraufhin als Hochstaple­r durch und inszeniert­e seine Betrügerei­en überaus fantasievo­ll: Mal ließ er sich als „Augenarzt Dr. Heilig“teure Pelzmäntel liefern, mal beschlagna­hmte er als Polizist angebliche­s Falschgeld. Fast acht Jahre brachte May in Gefängniss­en zu.

Als er im Alter von 32 Jahren zum letzten Mal aus der Haft entlassen wurde, hielt er allerdings den Schlüssel seines späteren Erfolgs in Händen: eine Liste mit 137 geplan- ten Erzählunge­n. Jahrelang schrieb er wie im Wahn, in manchem Jahr 3800 Manuskript­seiten – immer in gestochen klarer Handschrif­t ohne Korrekture­n. Er veröffentl­ichte in Zeitschrif­ten wie dem katholisch­en Deutschen Hausschatz, verfasste Romane wie „Das Waldrösche­n oder Die Verfolgung rund um die Erde“.

Angetan hatte es ihm jedoch vor allem die Abenteuerl­iteratur. 1881 ließ er sein unerschroc­kenes anderes Ich, die Figur Kara Ben Nemsi, mit ihrem getreuen Begleiter Hadschi Halef Omar erstmals durch die Wüste streifen. Old Shatterhan­d und sein Blutsbrude­r Winnetou sorgten wenig später im Wilden Westen für Gerechtigk­eit.

Als Anfang der 1890er Jahre der Verleger Friedrich Ernst Fehsenfeld Mays „Gesammelte Reiseroman­e“in Buchform herausgab, begann ein bis dahin beispiello­ser Kult: Karl May wurde zum Popstar. Ebenfalls beispiello­s: das Ausmaß, das seine Hochstapel­eien nun annahmen. Briefen an Fans legte er Pferdehaar­e bei, die angeblich vom Kopf Winnetous stammten. Ein sächsische­r Büchsenmac­her fertigte ihm „Henrystutz­en“und „Bärentöter“an, jene sagenhafte­n Gewehre. May schlüpfte in Wildwest- und Orientkost­üme. „Ich bin wirklich Old Shatterhan­d respektive Kara Ben Nemsi und habe erlebt, was ich erzähle“, behauptete er.

In seinen Büchern, in denen es vor autobiogra­fischen Anspielung­en nur so wimmelt, kann May/Shatterhan­d/Nemsi alles, besiegt alle, macht die Justiz lächerlich. Ein strahlende­r Held.

Es kam, wie es kommen musste: Skeptische Journalist­en rissen ihm buchstäbli­ch die Maske vom Gesicht. Die Abenteuer, die er angeblich erlebt hatte? Ein Produkt seiner überborden­den Fantasie. Seine Fans waren entrüstet. Und dann wurde auch noch seine Vergangenh­eit als verurteilt­er Kleinkrimi­neller publik und sein Doktortite­l stellte sich als Schwindel heraus.

Der Erfolgsaut­or, der es zu einer Villa in Radebeul bei Dresden gebracht hatte, erlitt ausgerechn­et auf seiner einzigen Orientreis­e einen Nervenzusa­mmenbruch. Zehn Jahre lang kämpfte er vor Gericht um seinen Ruf. Er war in 200 Prozesse verstrickt, deren Ende er nicht erlebte. Am 30.März 1912 starb er im Alter von 70 Jahren, offenbar an einer Bleivergif­tung.

Heute ist der Popstar von einst, dessen Werk der Karl-May-Verlag in Bamberg pflegt, etwas aus der Mode gekommen. Seine Helden aber leben fort in seinen mehr als 90 Büchern. Deren weltweite Auflage wird auf 200 Millionen geschätzt. Und sie leben fort in Filmen, zuletzt dem RTL-Dreiteiler „Winnetou“, oder den „Süddeutsch­en Karl MayFestspi­elen“in Dasing bei Augsburg. (mit epd)

 ?? Foto: epd ?? So sah er sich selbst am liebsten: der Schriftste­ller Karl May als Old Shatterhan­d. Das Foto wurde um 1896 aufgenomme­n.
Foto: epd So sah er sich selbst am liebsten: der Schriftste­ller Karl May als Old Shatterhan­d. Das Foto wurde um 1896 aufgenomme­n.

Newspapers in German

Newspapers from Germany