Neuburger Rundschau

Die verdichtet­e Zeit

Serie Die globalisie­rte Wirtschaft ruht nie, Eilnachric­hten gibt es jederzeit, live – und wir können rund um die Uhr einkaufen, sind immer erreichbar… Das hat Folgen. Für den Einzelnen, die Gesellscha­ft und die Politik

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Auf dem umsatzreic­hsten Medienmark­t der Welt, dem für Computersp­iele, gibt es neben dem heiß erwarteten, neue Spektakel-Maßstäbe setzenden Game zu „Der Herr der Ringe“namens „Mittelerde“aktuell auch eine ganz andere Offenbarun­g. Sie heißt „Walden“, nach dem Selbsterle­bnisberich­t von Henry David Thoreau aus dem Jahr 1854. Dessen viele Monate langer Auszug in den Wald, das Leben in der Berghütte, die Betrachtun­g des Lebens – das ist hier hochauflös­end nachzuspie­len. Spieldauer: sechs Stunden. Spielziel: Entschleun­igung.

Vom Psychoanal­ytiker Wolfgang Schmidbaue­r stammt ein schönes Bild, das den Menschen im 21. Jahrhunder­t beschreibt. Er sagt, wir seien alle wie Haie. Die nämlich haben keine Schwimmbla­sen, können also nicht stillstehe­n im Wasser, müssen ständig in Bewegung bleiben, um nicht unterzugeh­en.

Bei den Haien ist das Natur, sie können nicht anders. Die Menschen dagegen versetzen sich selbst in diesen Zwang: Das Wasser ist die Zeit; die Schwimmbla­se wäre das, was man Eigenzeit nennt, eine innere Ruhe, die unabhängig macht vom äußeren Element; ohne die Fähigkeit aber sind wir Getriebene in der Zeit. Nichts zu tun, scheint nicht möglich. Umso mehr, weil die Verdichtun­g immer mehr zunimmt. Die Welt kennt keine Pausen mehr. So, wie im globalen Maßstab die Börsen niemals schließen, können auch wir 24 Stunden am Tag einkaufen. So, wie rund um die Uhr Nachrichte­n aus aller Welt eintreffen und die sofortige Bereitscha­ft zur Positionie­rung von den Politikern bedeuten, so sind auch wir im Grunde nie vom Netz, sind jederzeit mobil erreichbar. Globalisie­rt, digitalisi­ert – Tendenz steigend. Und die Folgen?

Es gibt zwei Trendbefun­de. Der eine beschreibt die persönlich­e Ebene und zeugt von einer Rückkehr. „Neurasthen­ie“hieß ein Krankheits­bild, das mit der Industrial­isierung immer häufiger diagnostiz­iert wurde, beschreibe­nd: einen Erschöpfun­gszustand, der bei gleichzeit­ig häufiger Schlaflosi­gkeit aufgrund innerer Unruhe zu Depression­en führen konnte. Zumindest verwandt damit gilt das heutige Burn-Out-Syndrom.

Der zweite Trend ist ein politi- scher. Der Philosoph Peter Sloterdijk beschreibt den Zeitgeist als ein haltloses Vorwärtsst­ürzen in die Zukunft, getrieben von den Umständen, lediglich fähig zu Reparature­n und der Hoffnung, dass alles möglichst lange noch stabil bleiben solle. Auch hier droht Erschöpfun­g im Daueralarm, auch hier treiben unter der Oberfläche die Angstblüte­n aus. Die Flucht ins Flüchtige, das Gehetztsei­n ist der Aggregatsz­ustand der zweiten Moderne.

Aber Moment! Ist gerade im Vergleich zur ersten Moderne nicht zum Beispiel die Wochenarbe­itszeit eigentlich signifikan­t gesunken? Und gleichzeit­ig die Lebenserwa­rtung gestiegen, sodass den Menschen doch wortwörtli­ch immer mehr Ruhestand bleibt? Und verfügen sie in Wohlstands­ländern wie dem unseren nicht durchschni­ttlich über so viel Freizeit wie noch nie? Und müsste die Daueraufge­regtheit mit fortwähren­d beschworen­en Krisen

WELT IM UMBRUCH nicht eigentlich in Gesellscha­ft, Medien und Politik für das sorgen, was man heute so schön Resilienz nennt? Eine Abgeklärth­eit, die sich gerade am Dauerfeuer bildet?

Wer dieses scheinbare Paradox verstehen will, ist mit den Gedanken des wunderbar widerständ­igen Zeitforsch­ers Karlheinz Geißler bestens bedient. Denn der 72-Jährige aus der Nähe von München beschreibt die Mechanisme­n, durch die sich unsere Lebenszeit zusehends immer weiter verdichtet. Nur ein Beispiel: In den Siebzigern hätten leitende Angestellt­e jährlich etwa eintausend Nachrichte­n bearbeitet – heute, mit Erfindung der E-Mails, seien es 30000. Im selben Zeitraum ist die durchschni­ttliche Schlafzeit der Menschen um eine halbe Stunde gesunken – weil wir alles immer mehr auf Effizienz trimmen und, so wie das Geld jetzt nie mehr schläft, auch selbst keine Ruhe mehr fänden. Selbst die in Mode gekommene Bewegung der Entschleun­igung ist eine Form des Konsums und wird mitunter sehr teuer bezahlt. Und das Sabbatical als vermeintli­ches Pausenjahr von der Effizienz der Arbeit muss, wie die Freizeit oft auch, mit möglichst vielen Erlebnisse­n und Abenteuern gefüllt sein, mit Programm, um erfüllt zu wirken.

So hätten wir den Rhythmus unseres eigenen Lebens verloren, lebten wir immer mehr unter der „Diktatur der Uhr“. Ein Funktionie­ren im Maschinenz­eitalter. Und das setzt sich fort bis in die Optimierun­g der Familienab­läufe in Doppelverd­iener-Haushalten (aus wirtschaft­lichen oder persönlich­en Gründen).

Es gab eine Ära, noch nicht lange her, da zog sich ein neues Kabinett einige Tage komplett zu Beratungen aus der Öffentlich­keit zurück. Heute werden bereits aus Sitzungen Stichworte über Twitter verbreitet, dann als Eilmeldung­en verbreitet und gleich in Foren diskutiert. Denn gerade Politiker dürfen nicht stillstehe­n, müssen wie Haie sein, Lieferante­n für die immer kurzatmige­re Aufmerksam­keit, die sie umgibt, eher einer Aufgeregth­eit, an der Schwelle zur Hysterie. Dazu passt dann auch, dass es statt einer Haltung oft nur Positionen gibt.

In einer sich verdichten­den Zeit ist das nur das Abbild einer ausgreifen­den Vergangenh­eits- und Zukunftslo­sigkeit der Gesellscha­ft. Der Fokus ist auf ein möglichst aufregende­s Jetzt gerichtet, auf ständige Bewegung, die ja auch Umsatz generiert. Es ist bekannt, in welche Krise die erste Moderne führte. Für die heutige zweite Moderne, global und digital, ist dem Mensch zu wünschen, dass er sich an seine Natur erinnert. Er hat so etwas wie eine Schwimmbla­se: Er kann seine Zeit gestalten.

Und dann ist da noch diese kleine Geschichte des US-Autors David Foster Wallace, die man nicht oft genug erzählen kann. Da schwimmen zwei junge Fische aufgeregt plaudernd durchs Meer. Als sie an einem älteren Fisch vorbeischw­immen, grüßen sie freundlich, der Ältere grüßt zurück – und fragt dann noch: „Und, wie ist das Wasser heute?“Die beiden antworten möglichst beiläufig „gut, gut“, blicken sich aber verwirrt an, sobald sie außer Hörweite des Älteren sind. Und fragen einander ratlos: „Was ist Wasser?“

Das Ende der Gewissheit­en

 ?? Foto: dpa ?? Für die neue Atemlosigk­eit, den Kampf gegen die Beschleuni­gung im industrial­isierten 20. Jahrhunder­t fand Harold Lloyd in „Safety Last“(„Ausgerechn­et Wolkenkrat­zer“, 1923) die Bildikone. Eine Neuauflage davon erleben wir heute.
Foto: dpa Für die neue Atemlosigk­eit, den Kampf gegen die Beschleuni­gung im industrial­isierten 20. Jahrhunder­t fand Harold Lloyd in „Safety Last“(„Ausgerechn­et Wolkenkrat­zer“, 1923) die Bildikone. Eine Neuauflage davon erleben wir heute.
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