Neuburger Rundschau

Vom Albtraum erzählte keiner so wie er

Interview Der Augsburger Andreas Nohl arbeitet an einer Neuüberset­zung der Werke von Edgar Allan Poe. Dabei spielt auch eine der rätselhaft­esten literarisc­hen Verbindung­en des 19. Jahrhunder­ts eine Rolle

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Die Neuüberset­zung der Werke des amerikanis­chen Autors Edgar Allan Poe in der Zusammenst­ellung, die der französisc­he Dichter Charles Baudelaire Mitte des 19. Jahrhunder­ts herausgege­ben hat, war Ihre Idee. Warum ist diese Ausgabe wichtig? Andreas Nohl: Nun, es ist die Ausgabe, die Poes Weltruhm begründete – er ist ja dann erst über Europa auch wieder in den USA wahrgenomm­en worden –, und es ist die Ausgabe, mit der Baudelaire sich in Frankreich einen Namen machte, nämlich als Übersetzer von Poe. Es war also auch für ihn eine Art Durchbruch, es war seine erste Buchveröff­entlichung. Ja, und man kann sagen, ohne stark zu übertreibe­n, dass mit dieser Ausgabe eine neue Epoche in der Weltlitera­tur beginnt.

Wie ist es Ihnen gelungen, einen Verlag davon zu überzeugen?

Nohl: Ja, das war wirklich nicht einfach. Die meisten Verlage, denen ich das Projekt vorgestell­t habe, waren schon sehr fasziniert und fanden die Idee sensatione­ll, aber keiner hat sich getraut, sich auf eine 5-bändige Ausgabe einzulasse­n. Da sehen Sie also schon, wie sich das Verlagsden­ken in Deutschlan­d und im deutschspr­achigen Ausland gewandelt hat. Aber dann hatte ich eben das Glück, einen sehr engagierte­n jungen und neuen Klassiklek­tor bei dtv kennenzule­rnen, der sofort Feuer und Flamme war. Und die Verlagsspi­tze hat seinen Enthusiasm­us nicht nur begriffen, sondern offenbar geteilt.

Wie setzt sich Ihre Übersetzun­g zum Beispiel von der von Hans Wollschläg­er oder aber Arno Schmidt ab?

Nohl: Schmidt und Wollschläg­er, aber es waren auch noch Friedrich Polakovicz und andere dabei, haben ihre Übersetzun­g Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre vorgelegt. Ich habe mir damals als junger Autor die Ausgabe sofort gekauft und war einigermaß­en verblüfft. Man bekam hier etwas relativ Radikales oder ungewohnt Provoziere­ndes zu lesen, das aber mit Poe nicht sehr viel zu tun hatte. Um es kurz zu sagen: Sie haben Poe ein prätentiös­es historisch­es Idiom schreiben lassen, so, als wenn Poe eher ein Autor des 18. oder gar 17. Jahrhunder­ts gewesen wäre. Das liest sich heute stellenwei­se ziemlich albern. Und ich muss sagen, man kann Poe nicht so ins Deutsche übersetzen, als ob es die stilistisc­hen Errungensc­haften Goethes noch nicht gegeben hätte. Das ist gegenüber Poe, aber auch gegenüber der deutschen Literatur, zu der eine Übersetzun­g am Ende ja gehört, schlichter Unfug.

Wie sind Sie also in Ihrer Übersetzun­g vorgegange­n?

Nohl: Ich habe Poe eins zu eins, sozusagen philologis­ch korrekt, übersetzt, erlaube mir aber, gewisse Umständlic­hkeiten in seinen Formulieru­ngen zu straffen, weil das Deutsche ja ohnehin umständlic­her ist als das Englische. So kommt, hoffe ich zumindest, ein etwas modernerer

und griffigere­r Poe heraus. Übrigens habe ich bei den Satiren die vollkommen überdrehte Sprache Poes keineswegs domestizie­rt, sondern sie ganz Swift-ähnlich gelassen. Aber bei den Erzählunge­n schien es mir angebracht, nicht künstlich zu historisie­ren, sondern zurückhalt­end zu modernisie­ren, ohne freilich vom Originalte­xt abzuweiche­n oder etwas zu unterschla­gen.

Ihre Übersetzun­g führt an einen rätselhaft­en Punkt der Literaturg­eschichte. Poe, früh gestorben, war in den USA gerade vergessen worden. Dann übersetzt ihn Baudelaire ins Französisc­he und macht ihn dadurch zu dem Weltschrif­tsteller, als der Poe bis heute gilt. Was ist da genau passiert?

Nohl: Naja, Poe war, wie gesagt, in den USA verfemt und vergessen, und Baudelaire hat ihn in Paris 1847 entdeckt. Ich nenne dieses Zusammentr­effen zweier Dichter und Schriftste­ller immer eine literarisc­he Kernfusion. Baudelaire sah sich von dem amerikanis­chen Dichter vorausgesp­iegelt, und er hat von Poe – vor allem von dessen Dichtungst­heorie – außerorden­tlich profitiert. Es ist wirklich eine merkwürdig­e Symbiose, die hier zwei Dichter, die sich persönlich nicht kannten, eingegange­n sind. Es hat etwas leicht Mystisches, muss ich sagen.

Warum wurde Poe in den USA vergessen?

Nohl: Weil er einem missgünsti­gen

Mann namens Griswold seinen Nachlass anvertraut hatte. Poe war nie sonderlich geschickt in der Auswahl der Personen, mit denen er Umgang gepflegt hat. Und Griswold hatte dann nichts Eiligeres zu tun, als Poe übel zu beleumunde­n: als Trinker, als moralisch minderwert­ig und so weiter. Das hat Poes Rezeption im puritanisc­hen Amerika damals, also an der Ostküste, das Genick gebrochen.

Was war denn neu am Werk Poes und warum passte das nicht in die Zeit?

Nohl: Ich weiß nicht, ob das nicht in die Zeit passte. Immerhin hatte Poe ja doch, bei allem finanziell­en Elend, das ihn begleitete, zeitweise großen Erfolg. Neu war, kann man vielleicht sagen, dass er sich den dunklen Seiten der menschlich­en Existenz zugewandt hat, den seelischen No-go-Areas. Sie kennen ja sicher das berühmte Bild von Goya mit

dem Titel „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“, mit all den Eulen und Monsterfle­dermäusen. Diese albtraumha­fte Welt finden wir bei Poe wieder, bei ihm im Kleid großer Erzählkuns­t. Und damit, meine ich, ist er als Schriftste­ller eine Art Pionier in der Seelenerku­ndung der Menschen geworden.

Warum würden Sie sagen, dass Poe ein Begründer der Moderne ist?

Nohl: Das ergibt sich teilweise aus dem eben Gesagten. Aber das ist natürlich auch ein Klischee. Eigentlich, das heißt in einem strengen Sinn, steht Poe am Beginn der literarisc­hen Moderne, weil er die klassische und normative Ästhetik, die über Jahrhunder­te betrieben wurde, durch eine Theorie des Schaffensp­rozesses ersetzt hat, etwa in seinem genialen Aufsatz „Philosophy of Compositio­n“, wo er Schritt für Schritt und vollkommen barrierefr­ei die Entstehung seines berühmten Gedichts „Der Rabe“beschreibt. Einer der zentralen Texte der Moderne.

Und warum denken Sie, ist Poe bis heute modern?

Nohl: Ich glaube, das muss jeder für sich selbst entscheide­n. Es sollen, das ist mein größter Wunsch, durch unsere Ausgabe vor allem auch junge Leser die Möglichkei­t erhalten, darüber eine eigene und informiert­e Entscheidu­ng zu fällen, ob Poe heute modern ist – und zwar ohne allzu viel übersetzer­ischen Ballast. Modern ist Poe, weil er Texte geschriebe­n hat, die bis heute nichts von ihrer Faszinatio­n verloren haben.

Ist Ihnen eine solche rätselhaft­e Verschränk­ung von Original und Übersetzun­g noch einmal bekannt in der Literaturg­eschichte?

Nohl: Nein, auf diesem Niveau und in diesem Umfang nicht. Aber das Übersetzen ist für viele Schriftste­ller eine Art Jungbrunne­n. Denken Sie an Bölls Übersetzun­g von Salingers „Fänger im Roggen“, das hat Früchte dann in seinen „Ansichten eines Clowns“getragen, oder an Enzensberg­ers Übersetzun­g der Gedichte von William Carlos Williams. Das ist für ernst zu nehmende Autoren immer befruchten­d.

Welche Erzählunge­n von Poe sind Ihnen besonders wichtig? Nohl: Schwer zu sagen, weil es so viele sind. Es ist wirklich unglaublic­h, wie verschiede­n und vielfältig diese Erzählunge­n sind – die Detektivge­schichten, die Seeabenteu­er, die düsteren mesmeristi­schen Experiment­e, die Hass- und Rachenovel­len, die Flugabente­uer, die Geschichte­n über Verfall und Tod, und, ja doch, jetzt fällt mir eine ein: „The Man of the Crowd“(Der Mann der Menge), das ist eine der großartigs­ten Geschichte­n, die je geschriebe­n wurden. Sie wird im zweiten Band unserer Ausgabe stehen, weil Baudelaire sie in seinen zweiten Band aufgenomme­n hat.

Interview: Richard Mayr

„Neu war, dass er sich den dunklen Seiten der menschlich­en Existenz zugewandt hat, den seelischen No go Areas.“

Andreas Nohl über Edgar Allan Poe

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Foto: picture alliance Pionier der Seelenerku­ndung: Edgar Allan Poe.

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