Neuburger Rundschau

Aus der Unterwelt in den Jazz Olymp

Ella Fitzgerald Einst stand sie Schmiere vor dem Bordell, dann wurde sie im legendären Apollo Theater von Harlem entdeckt. Es begann ihr Aufstieg zur größten Jazz-Sängerin aller Zeiten

- VON REINHARD KÖCHL

Wer hinter das Geheimnis der großen Ella Fitzgerald kommen möchte, der sollte sich ihr am besten von mehreren Seiten nähern. Zum einen über die von profession­ellen Zeitzeugen. Tommy Flanagan, ihr langjährig­er Begleiter am Klavier, erzählte einmal bei einem Besuch im Neuburger „Birdland“von seinem Debüt bei der „First Lady of Song“. Das war 1962 in London. „Ich war ziemlich nervös und machte so gut wie alles falsch. Normalerwe­ise sprach Ella kaum während des Gigs. Diesmal aber stand sie plötzlich neben mir und zischte mich an: „Wenn das so weitergeht, sind wir beide bald raus dem Geschäft. Also reiß dich zusammen, Mann!“Das war ein ziemlich heftiger Anschiss. Also riss ich mich zusammen.“

Und Flanagan riss sich mit Erfolg zusammen: Bis 1978 - im Jazz eine halbe Ewigkeit - dauerte die künstleris­che Liaison der beiden musikalisc­hen Schwergewi­chte.

Dann wäre da noch die Seite der nahezu unerreicht­en Gabe Ella Fitzgerald­s, auch die scheinbar ausweglose­n Situatione­n in deren Gegenteil umzukehren. Zum Beispiel, als sie mit gerade mal 22 Jahren ohne jegliche Erfahrung das Orchester ihres kurz zuvor verstorben­en Mentors Chick Webb übernahm. Oder beim legendären Auftritt 1960 in Berlin, als Ella den Originalte­xt von „Mack The Knife“vergaß, einfach aus dem Stegreif einen neuen erfand, der sich sogar noch reimte, und den Rest brillant mit Scat-Gesang ausfüllte. Weil Tonbänder mitliefen, gab es hinterher ein Album („Live In Berlin 1960“), das schließlic­h einen Grammy einheimste - einer von insgesamt elf Auszeichnu­ngen dieser Art.

Natürlich ist Improvisat­ion auch im Jazz nicht alles. Es gehört mehr dazu. Talent zum Beispiel, handwerkli­che Fähigkeite­n wie Notenlesen, dazu Disziplin und Empathie. All dies besaß Ella Fitzgerald im Übermaß. Aber selbst dieses Übermaß hätte der Frau, die am 25. April 1917 in Newport News/Virginia geboren wurde und heute 100 Jahre alt geworden wäre, kaum den bis in die Gegenwart hinein unbestritt­enen

eingebrach­t, die größte Jazzsänger­in aller Zeiten gewesen zu sein.

Darüber hinaus konnte Ella singen - aber wie! Während andere mit ihrer Stimme hörbar arbeiten, sich mühen, den richtigen Ton zu treffen, vermittelt­e Ella stets den Eindruck von purem Vergnügen, Leidenscha­ft und Sicherheit.

Sie war voluminöse Stimme und leise Kammersäng­erin, beides mit

der gleichen Intensität, der gleichen Ausgelasse­nheit, der gleichen Distinktio­n. Ihr volles, helles Organ erklomm nahezu drei Oktaven, klang in den oberen Lagen naiv, fröhlich, auch ein wenig kindlich, in den mittleren warm und kräftig, in der Tiefe rund, sanft und samten. Und die Grande Dame des Jazz traf geistesgeg­enwärtig die richtigen Entscheidu­ngen zum richtigen ZeitRuf

punkt: beim Scaten, einer Ansammlung scheinbar sinnloser Silben und Vokale - und im normalen Leben. Ein Selbsterha­ltungsrefl­ex. Das Attribut einer Kämpferin.

Denn kämpfen musste Ella von Anfang an. Als Vollwaise in Yonkers bei New York aufgewachs­en, stand sie einst entweder an der Tür eines Bordells Schmiere oder verdingte sich als Kurier für die Mafia. Ein 15-jähriges, schwarzes Mädchen, obdachlos inmitten der großen Weltwirtsc­haftskrise, geprägt von Perspektiv­losigkeit. Wer weiß, was aus ihr ohne den Talentwett­bewerb im legendären Apollo Theater in Harlem geworden wäre! Eigentlich hatte sich die kleine, drahtige Gör als Tänzerin angemeldet, doch dann schlottert­en ihr im entscheide­nden Moment die Knie. Stattdesse­n begann sie zu singen, Hoagy Carmichael­s „Judy“. Die Not geriet zum ersten Mal zur veritablen Tugend. Das Publikum hielt den Atem an, spendete stehende Ovationen, der erste Preis ging an sie.

Besagter Chick Webb protegiert­e sie fortan, mit dem Kinderlied „A-Tisket A-Tasket“gelang Ella 1935 der erste große Hit. Danach kamen weitere Männer, die ihrem Karrierema­rsch reizvolle Richtungen aufzeigten: Dizzy Gillespie, ihr späterer Ehemann Ray Brown sowie der Produzent Norman Granz. Die Weichen jedoch stellte sie ganz alleine. Ella musizierte mit fast allen Meistern des Jazz, in allen Formatione­n, mit Big Bands (Count Basie, Duke Ellington), Trios, Duos. Sie zählte zu den Stammgäste­n in Granz´ Konzertrei­he „Jazz At The Philharmon­ic“. Und nicht zuletzt setzte sich Ella Fitzgerald mit ihren „Song Books“als Interpreti­n aller Meister der Unterhaltu­ngsmusik wie Irving Berlin, George Gershwin, Jerome Kern oder Cole Porter selbst ein klingendes Denkmal.

Sie fürchtete schlechte Kritiken und trug schwer daran, sie freute sich anderersei­ts natürlich über jede positive Regung im Publikum. Sie war eine stattliche Frau mit noch im Alter mädchenhaf­ten Zügen - selbst als ihr 1993 wegen einer Zuckerkran­kheit beide Beine amputiert werden mussten. Ella Fitzgerald, diese würdevolle Erscheinun­g mit dem schönen Gesicht, den hellen, warmen Augen, dient selbst 2017, 21 Jahre nach ihrem Tod, als Maßstab für Vokalisten aller Genres: Adele, Lady Gaga, Alicia Keys, Christina Aguilera, Michael Bublé, Stevie Wonder, K. D. Lang. Ein Glückskind. „Ich singe so, wie ich mich fühle. Deshalb singe ich happy Jazz“, sagte Ella. Ihre Stimme katapultie­rte sie vom Dunkel ins Licht.

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Foto: dpa Ella Fitzgerald am 22. Februar 1968 im Carlton Theatre von London.

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