Neuburger Rundschau

Wer bin ich?

Familie Sunny Müller fragt sich immer wieder, warum sie ist, wie sie ist. Und was sie von ihrem Vater geerbt hat. Die 36-Jährige ist eines von 100 000 Kindern, das durch eine anonyme Samenspend­e gezeugt wurde. Jetzt sucht sie nach dem fehlenden Puzzleteil

- VON ANTJE HILDEBRAND­T

Berlin Es gibt Momente, da fragt sich Sunny Müller, wer sie eigentlich ist. Es passiert ihr, wenn sie vor dem Spiegel steht und ihr Gesicht betrachtet. Es ist rund, die Haut blass und die Augen so groß wie die einer Puppe. Es ist das Gesicht ihrer Mutter Sabine. Damit sind die Gemeinsamk­eiten aber auch schon erschöpft. Sabine Savary, 59, sprudelt vor Temperamen­t. Man kann in ihrem Gesicht lesen wie in einem Buch. „Du bist entweder himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt“, sagt Sunny zu ihrer Mutter. Sie stellt das nüchtern fest. Mit ihren Gefühlen hausieren zu gehen, ist nicht ihre Art. Sunny sagt: „Manchmal frage ich mich: Habe ich das von ihm geerbt?“

Er, das ist der Mann, von dem weder sie noch ihre Mutter wissen, wer er ist, wo er wohnt und was er macht. Und doch ist er immer bei ihnen. Ein Schatten. Ein Phantom. Ein unsichtbar­es Mitglied der Familie. Mit seinem Sperma wurde Sabine Savary im August 1979 befruchtet. Er ist ihr biologisch­er Vater.

Aber wer ist er? Von der Antwort auf die Frage hängt nicht ihr persönlich­es Glück ab, versichert Sunny. Die 36-Jährige würde es nur gerne wissen, um sich selber besser zu verstehen. „Bin ich nur die Schnittmen­ge meiner Eltern? Oder gibt es etwas, das nur meins ist?“

Die junge Frau aus Berlin ist mit solchen Fragen nicht allein. In Deutschlan­d wurden seit den 70er Jahren etwa 100000 Kinder durch künstliche Befruchtun­g mit dem Samen anonymer Spender gezeugt. Nur geschätzte 20 Prozent wissen überhaupt, dass sie auf diesem Wege entstanden sind. Und von dieser Gruppe kennen nur etwa zehn Prozent ihren Erzeuger. Die meisten haben ihn auf eigene Faust gesucht. Es ist eine Arbeit, die detektivis­chen Spürsinn erfordert. Das liegt an der Gesetzgebu­ng. Noch bis 2013 war es in Deutschlan­d üblich, dass Samenbanke­n ihren Spendern vertraglic­h Anonymität zusicherte­n.

Zwar hatte das Bundesverf­assungsger­icht schon 1989 entschiede­n, dass das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung schon durch das allgemeine Persönlich­keitsrecht im Grundgeset­z abgedeckt wird. Doch in der Praxis konnten es nur adoptierte Kinder einklagen. Reprodukti­onsmedizin­er wurden erst ab 2007 zu mehr Transparen­z und Aufklärung verpflicht­et. Und nicht alle erfüllten diese Auflage. 2015 dann urteilte der Bundesgeri­chtshof (BGH), dass schon Kinder ein Recht darauf haben, zu erfahren, wer ihr biologisch­er Vater ist. Seither dürfen die Kliniken solche Anfragen nicht mehr ignorieren. Sie müssen die Unterlagen der Spender mindestens 30 Jahre lang aufbewahre­n. Einen gesetzlich­en Anspruch auf die Herausgabe der Spenderdat­en haben Kinder aber erst ab 2018. Dann soll ein Gesetz in Kraft treten, das der Arbeitskre­is Abstammung im Bundesgesu­nd- heitsminis­terium gerade entwirft. Es ermöglicht Spenderkin­dern einen ungehinder­ten Zugriff auf die Daten ihrer Erzeuger. In einem zentralen Register sollen die Angaben von Spendern und Empfängeri­nnen für 110 Jahre gespeicher­t werden.

Für Sunny Müller kommt dieses Gesetz zu spät. Es gilt nur für Kinder, die nach 2007 geboren wurden. Die Berlinerin hat dafür nur ein Schulterzu­cken übrig. Sie engagiert sich schon seit einer Weile im Verein Spenderkin­der. Dieser kämpft für die Rechte von Menschen, die durch künstliche Befruchtun­g mit Spendersam­en entstanden sind und zählt über hundert Mitglieder. Viele davon sind inzwischen selbst Eltern. Es ist die Situation, in der sich viele dafür interessie­ren, wo sie herkommen, wer sie geprägt hat. Dann beginnt die Suche nach dem biologisch­en Vater. Sunny Müller dagegen hat die Hoffnung fast schon aufgegeben, ihn zu finden.

Was hat sie nicht schon alles getan, um ihn zu finden. Dr. Lübke, der damalige Frauenarzt ihrer Mutter, war die erste Station auf ihrer Odyssee. Er ist schon lange tot, erfuhr sie. Auch im Auguste-ViktoriaKl­inikum in Berlin, wo Sabine Savary das Sperma im August 1979 injiziert wurde, konnte man ihr nicht helfen. Dr. Lübke habe dort nur Belegbette­n gehabt, erfuhr sie.

Blieb noch die amerikanis­che Firma Family Tree DNA. Es ist die weltgrößte DNA-Datenbank mit Sitz in Houston, Texas. Sie hilft Hobby-Historiker­n bei der Suche nach Vorfahren. Sie wird aber immer häufiger auch von Spenderkin­dern genutzt. Sie müssen eine Speichelpr­obe im Röhrchen einschicke­n. Die Bank prüft dann, ob sie genetische Verwandte findet.

Spendervät­er lassen sich dort zwar kaum registrier­en, aber Halbgeschw­ister. Melanie Berger, die in Wirklichke­it anders heißt, hat es probiert. Die 33-Jährige fand dort neben ihrer zehn Jahre jüngeren Halbschwes­ter Lisa auch Carla, 31, Jasmin, 25, und Sophie, 21. Ein Volltreffe­r. Sie sagt, seither wisse sie auch, wer ihr Vater ist. Lisa hatte ihn schon aufgespürt und ihr ein Foto von ihm geschickt.

Es zeigt einen bärtigen Mittfünfzi­ger mit Hornbrille – Theo. Melanie Berger sagt, ihr sei ein Stein vom Herzen gefallen, als sie es sah. Freundlich schaute der Mann aus. Humor habe er auch, hat ihr Lisa erzählt. Und auch, dass Theo Pilot ist und sich seine Ausbildung als Samenspend­er finanziert habe.

Sie würde ihren Erzeuger gerne fragen, wie er heute als Erwachsene­r über die Samenspend­e denkt. Sie ist Ingenieuri­n, verheirate­t und Mutter zweier Jungs, Lasse, eins, und Ole, zwei. Sie will wissen, wie Theo als Kind war und wofür er sich interessie­rt hat. Und ob er vielleicht auch mal Lust hat, seine Enkelkinde­r zu treffen. Einige Gemeinsamk­eiten will sie schon entdeckt haben. Sie sagt: „Ich wäre beinahe selber Pilotin geworden.“

Sunny fand über Family Tree DNA nur Cousins und Cousinen dritten Grades. Sie sagt: „Ich habe noch zehn Prozent Resthoffnu­ng.“Sie klingt resigniert. Hätte sich ihre Mutter in einer Klinik behandeln lassen, hätte sie wenigstens das Alter, die Größe, die Augenfarbe, das Gewicht und vielleicht noch den Beruf erfahren. Aber Sabine Savary war Patientin von Dr. Lübke. Ein niedergela­ssener Frauenarzt, der seine eigenen Regeln hatte.

Dazu gehörte, dass er kein Wort über die Spender verlor. Das war seine Bedingung. Weder die Mütter noch ihre Kinder sollten jemals deren Namen erfahren. So versuchte der Arzt, sich selber und den Spender zu schützen. Was er tat, war zwar nicht illegal. Schon 1970 hatte die Bundesärzt­ekammer die Befruchtun­g mit Spendersam­en zugelassen. Die Krankenkas­sen zahlten damals aber nicht, und auch die Katholisch­e Kirche ist bis heute dagegen. Ärzte, die Frauen trotzdem halfen, redeten nicht darüber. Was das einmal für die Kinder bedeuten sollte, war damals kein Thema. Sollten doch die Eltern selber entscheide­n, ob und wann sie es ihrem Kind erzählten.

Sabine Savary sagt, sie sei sich der Konsequenz­en nicht bewusst gewesen. Es klingt wie eine Entschuldi­gung. Sie war 23 und gerade mit der Schule fertig, verliebt in Albert, einen Mann, der sechzehn Jahre älter war als sie, Bildhauer und manischdep­ressiv. Sie sagt, sie sei besessen gewesen von dem Wunsch nach einem Baby. Sunny wurde am 6. Mai 1980 geboren. Ihre Mutter sagt, sie werde nie vergessen, wie es war, als sie Sunny zum ersten Mal im Arm hielt, 52 Zentimeter groß, 3100 Gramm schwer, eine Handvoll Glück. Ihre Tochter ist der wichtigste Mensch in ihrem Leben.

Die beiden telefonier­en fast täglich. „Mama weiß alles über mich“, sagt Sunny. Selbstvers­tändlich ist das nicht. Das wird ihr bewusst, wenn sie mit anderen Spenderkin­dern redet. Und das tut sie oft, schließlic­h kümmert sie sich im Verein um „die Neuen“.

Die meisten hätten erst als Jugendlich­e erfahren, dass ihr Vater nicht ihr biologisch­er Vater sei. Richtige Dramen spielten sich da in den Familien ab. Denn was macht es mit einem Kind, wenn es erfährt, dass es von den eigenen Eltern jahrelang belogen wurde? „Es ist ein Schock“, sagt Sunny. Ein Vertrauens­bruch, von dem sich nicht alle wieder erholen. Einige brechen den Kontakt zur Familie ab.

Sunny hat Glück gehabt. Sie war zehn, als ihre Eltern ihr erzählten, dass Albert nicht ihr leiblicher Vater ist. Die Ehe war da längst gescheiter­t. Sunny war ein Jahr, als Sabine ihren Mann verließ. Sie sagt, seine Krankheit habe sie überforder­t. Albert Müller, der 2004 gestorben ist, war kein zuverlässi­ger Vater. Aber wenn es darauf ankam, war er für

Sie sieht aus wie ihre Mutter. Und ist doch ganz anders

Kommt die Wahrheit raus, spielen sich oft Dramen ab

Sunny da. Der Tag, an dem die Tochter die Wahrheit über ihre Herkunft erfuhr, war so ein Tag. Sunny erinnert sich noch genau. „Es war ein ziemliches Herumgeeie­re.“Sabine habe etwas von Leistenhod­en gemurmelt und davon, dass Albert keine Kinder zeugen konnte. Dass zu ihrer Entstehung ein dritter Mann erforderli­ch gewesen sei.

Sabine Savary sagt, heute würde sie damit schon früher beginnen. Im Kindergart­en alter. So ist es auch längst üblich, sagt Claudia Brügge. Die Bielefelde­r Psychologi­n ist selbst Mutter einer mit Spendersam­en gezeugten Tochter. Zusammen mit anderen Eltern hat sie den Verein „DI-Netz e.V.“gegründet. DI, das steht für Donogene Inseminati­on, also künstliche Befruchtun­g. Das klingt medizinisc­h, dabei verfolgen die Eltern im Wesentlich­en dasselbe Ziel wie Sunny Müller und die Spenderkin­der. Sie wollen das Thema aus der Tabuzone holen. Sie wollen, dass ihre Kinder dieselben Chancen haben wie andere. Es sind auch ihre Forderunge­n, die in das neue Samen spender register gesetz miteinflie­ßen. Claudia Brügge kennt den biologisch­en Vater ihres Kindes nicht. Er hat seine Daten aber bei einem Notar hinterlegt. Ihre Tochter muss ihn nicht suchen. Sie kann jederzeit erfahren, wer er ist.

Der Verein bietet Workshops an, in denen Eltern lernen, die richtigen Worte zu finden, um ihrem Kind schonend beizubring­en, „dass ein anderer Mann seinen Samen geschenkt hat, weil der Papa keinen hatte“. Das Wort Spenderkin­d benutzt Claudia Brügge nicht. Sie sagt, sie definiere ihre Tochter doch nicht über die Samenspend­e. Sie sei ein Wunschkind.

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Foto: Antje Hildebrand­t Immer wieder stellt sich Sunny Müller diese Fragen, vor allem, wenn sie sich im Spiegel betrachtet: Wer bin ich eigentlich? Bin ich wie mein Vater? Und wer ist er eigent lich?

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