Aus gegebenem Anlass
Literatur Drei der besten deutschsprachigen Bücher des Frühjahrs erzählen über das Leben in der Diktatur und von der Flucht. Von Deutschland 1933 spannt sich der Bogen über die aktuellen Krisengebiete Korea und Syrien bis nach Deutschland 2017 – direkt zu
Als wären die Nachrichten nicht schon voll davon: Terror und Krieg, Diktatur und Elend. Wer braucht da noch Romane, die alte Geschichten von Gewalt, Unterdrückung und Leid nachzeichnen? Oder die aktuelle Dramen in erfundenen Schicksalen erkunden? Was soll ein neues Buch über persönliche Verheerungen durch Nazi-Herrschaft und Stalinismus anderes vermögen als hunderte zuvor? Bei immer noch größerem zeitlichen Abstand… Und steht eine künstlerische Schöpfung über die Katastrophe in Syrien nicht ohnehin im Verdacht, sich dieses Leid für die eigene Inszenierung zunutze zu machen? Bei noch immer unmittelbarer Gleichzeitigkeit von Krieg und Flucht in der Wirklichkeit…
Es gibt aktuell gleich drei deutschsprachige Romane, die zu den besten dieses Frühjahrs gehören, weil sie auf diese Zweifel und Probleme überzeugende Antworten finden. Und gerade in der Zusammenschau wird daraus dann sogar eine eindringliche Botschaft über die Notwendigkeit solcher Bücher.
Das beginnt beim nun 70-jährigen deutschen Schriftsteller Christoph Hein mit fast klassischem Renommee; er erzählt in „Trutz“eine berührende Familien- und Erinnerungsgeschichte, die von Hitlers Machtergreifung über die Diktaturen in Sowjetunion und DDR bis in die bundesrepublikanische Gegenwart führt. Das geht weiter bei der 32-jährigen Deutsch-Aserbeidschanerin Olga Grjasnowa; sie arbeitet nach zwei viel gelobten Romanen über ihren eigenen Migrationshintergrund nun in „Gott ist nicht schüchtern“die Geschichte ihres Partners auf, eines nach Berlin geflüchteten Schauspielers aus Syrien, und schreibt damit parallel zum Zeitgeschehen. Das führt schließlich zu Anna Kim, 39, einer in Wien lebenden Autorin, die bereits häufiger über Kriegsschicksale geschrieben hat; sie führt in „Die große Heimkehr“nach Korea, in die Süd wie Nord eskalierende Diktatoren-Ära, in deren Folge sie als Kind auf der Flucht zunächst nach Berlin kam.
Bei Anna Kim ist das Geglückte am offenkundigsten. Wir sind längst gewöhnt, Nordkorea als das Land von Diktatur und Elend zu sehen, im Süden der Halbinsel dagegen die liberale Wachstumsgesellschaft. Im besten Sinne eines historischen Romans führt die Autorin aber zu den eben nicht so eindeutigen Wurzeln. Ein alter Mann erinnert sich in „Die große Heimkehr“an die Jahre nach dem Krieg, Seoul 1959, als befeuert von der amerikanischen Kommunistenjagd auch südlich des 38. Breitengrads ein autoritäres Regime herrscht und für manchen der Norden wie der Entwurf einer neuen, gerechteren Gesellschaft verlockend wirkt. Als es unmöglich scheint, sich aus den alles Menschliche vergiftenden ideologischen Konflikten herauszuhalten, wo jeder Verdacht, jedes Gerücht zu Verfolgung und Tod des Einzelnen und seiner Familie führen kann – wo man nicht mal wissen kann, auf welcher Seite der Freund und die Geliebte wirklich stehen. Kim führt das über eine Flucht 1960 nach Japan fort, wo Koreaner die rassistische Abwertung erleben, und dann, in feinen Sätzen fragend, auch auf uns heute zurück: Wir geiseln Nordkorea als Schurkenstaat, der seine Bewohner versklavt, „und sind doch, mehr als zuvor, auf Sklavenarbeit wie diese angewiesen, wenn wir unseren Lebensstandard halten wollen“. Ein in der Belebung der Geschichte so schönes wie kühnes Buch.
Ungleich schwieriger ist eine solche Belebung bei Christoph Hein und Olga Grjasnowa. Der Zweite Weltkrieg mit seinen (teils danach fortdauernden) Diktaturen wird uns ja ständig vergegenwärtigt und der Syrien-Krieg mit den zu uns Flüchtenden ist ja schlicht gegenwärtig – was also kann Literatur hier drängend vergegenwärtigen, das historische Aufarbeitung und journalistische Berichterstattung nicht könnten? In Christoph Heins „Trutz“ist das die fast schon dokumentarisch daherkommende Aufarbeitung einer Familiengeschichte – erinnert, wie bei Kim, durch einen alten Mann, der allein übrig geblieben ist. Geboren im Moskau unter Stalin, wohin die liberal denkenden Eltern vor Hitler geflohen sind – und wo sie schließlich doch auch zugrunde gehen. Der Sohn wiederum findet den Weg aus den Lagern über Moskau und die DDR schließlich zurück in ein wiedervereinigtes Deutschland – bleibt aber ein Fremder. Weil er nichts vergessen kann, nicht hinnehmen will, wie unversehens und unrettbar das einzelne Leben in den willkürlichen Mühlen der Geschichte zerrieben werden kann. Ein starkes Erinnerungsbuch von Christoph Hein, das durch einen Sonderling zeigt, wie prägend die Historie oft unbemerkt für unser ganz normales Denken heute noch ist.
Und hier fügt sich auch Olga Grjasnowas „Gott ist nicht schüchtern“an. Sie erzählt, wie in Syrien ein Arzt bei seiner Rückkehr aus Frankreich und eine junge Schauspielerin aus reichem Haus plötzlich politisch werden müssen, einfach weil sie ihr ganz normales Leben weiterführen wollen – und so zwischen die Fronten geraten. 2011, hier Assads Schergen, dort radikale Islamisten und dazwischen jämmerliches Sterben oder verzweifelter Behauptungskampf in der freien syrischen Armee gegen gleich zwei übermächtige Feinde. Bis die beiden doch fliehen müssen und immer wieder inmitten so vieler anderer mit dem gleichen Schicksal und unter Lebensgefahr in Berlin landen. Und erfahren: „Nach dem Überleben kommt die Bürokratie.“
Grjasnowa erzählt in einer Unmittelbarkeit, die kein Journalist, die höchstens ein Flüchtling selbst liefern könnte – wenn er denn könnte. Dramatisch und glaubwürdig, bei ihr passiert Geschichte ja tatsächlich jetzt. Und so offenbart sich hier genau das Unmenschliche, das Anna Kim und Christoph Hein in seiner zeitübergreifenden Wirkung geschildert haben, aktuell am Werk. Die unausgesetzte Wucht aktueller Nachrichten mag uns manchmal blind dafür machen, die Literatur aber kann den Blick schärfen: für die Zerbrechlichkeit und die Bedrohtheit des Menschlichen. Das bedeutet einerseits Herzensbildung. Andererseits aber auch angesichts der Abgründe von Krieg und Diktatur die Erkenntnis, wie unschätzbar hoch die Werte von Freiheit und Demokratie sind. Eine Selbstverständlichkeit? In den Zeiten, wo manche wahlweise von einer Merkeloder EU-Diktatur faseln, von homogener Bevölkerung träumen und sich autoritäre Kräfte erheben?
Die Geschichte wirkt immer nur im Rückblick eindeutig
Suhrkamp, 477 S., 25 ¤ Aufbau, 309 S., 22 ¤ Suhrkamp, 558 S., 24 ¤