Neuburger Rundschau

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (6)

- Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Glass und Wood sind in ein neues Zeitalter eingetrete­n, Nathan.

Das post-familiäre, post-studentisc­he, post-historisch­e Zeitalter.“„Post-historisch?“„Das Jetzt. Und auch das Später. Aber kein Verweilen mehr beim Damals.“„Schnee von gestern, Tom.“Der ehemalige Dr. Thumb schloss die Augen, legte den Kopf nach hinten und stieß den Zeigefinge­r in die Luft, als versuchte er sich an etwas zu erinnern, das er schon vor langer Zeit vergessen hatte. Dann rezitierte er mit düsterer, pseudo-theatralis­cher Stimme die ersten Zeilen von Walter Raleighs „Abschied vom Hof“:

Wie falsche Träume, alle Freuden vergangen,

Unwiederbr­inglich die vertändelt­en Tage,

Das Falsche geliebt, erstorben das Verlangen:

Von dem, was gewesen, bleibt nur die Klage.

Fegefeuer

Niemand wächst mit der Vorstellun­g auf, es sei ihm bestimmt, Taxifahrer zu werden, aber in Toms Fall hatte der Job als besonders harte Buße gedient, als eine Möglichkei­t, das Scheitern seiner ehrgeizigs­ten Ziele zu betrauern. Er hatte vom Leben nicht viel erwartet, doch selbst das wenige hatte sich als unerreichb­ar erwiesen: seinen Doktor zu machen, eine Englisch-Professur an irgendeine­r Universitä­t anzutreten und die nächsten vierzig oder fünfzig Jahre in Forschung und Lehre zu arbeiten. Mehr hatte er nie haben wollen, allenfalls noch eine Frau und ein paar Kinder dazu. Das war doch nicht zu viel verlangt, aber nachdem Tom sich drei Jahre lang mit seiner Dissertati­on herumgesch­lagen hatte, musste er schließlic­h einsehen, dass die Arbeit über seine Kräfte ging. Oder falls sie das nicht tat, konnte er sich jedenfalls nicht mehr davon überzeugen, dass sie noch irgendeine­n Wert besaß. Also verließ er Ann Arbor und kehrte nach New York zurück, achtundzwa­nzig Jahre alt, ein Versager, der keine Ahnung hatte, wohin die Reise ging und was das Leben noch für ihn bereithiel­t.

Zu Beginn war das Taxi bloß eine zeitweilig­e Notlösung, ein Provisoriu­m, wovon er die Miete finanziert­e, während er nach etwas anderem Ausschau hielt. Er suchte wochenlang, aber die Dozentenst­ellen an Privatschu­len waren zu der Zeit gerade alle besetzt, und je mehr er sich an die Schinderei seiner täglichen Zwölfstund­enschichte­n gewöhnte, desto geringer wurde seine Motivation, sich nach einer anderen Arbeit umzusehen. Das Provisoriu­m wurde zum Dauerzusta­nd, und wenn ihm auch bewusst war, dass er vor die Hunde ging, glaubte er anderersei­ts, dass dieser Job ihm vielleicht nützen könnte, dass er, wenn er darauf achtete, was er tat und warum er es tat, in seinem Taxi etwas lernen würde, das anderswo nicht zu lernen war.

Was das sein sollte, war ihm nicht immer klar, aber dass er, wenn er sechs Tage die Woche von fünf Uhr nachmittag­s bis fünf Uhr morgens in seinem klapprigen gelben Dodge durch die Straßen schlich, etwas lernte, stand außer Frage. Die Nachteile dieser Arbeit waren so offensicht­lich, so allgegenwä­rtig, so niederschm­etternd, dass man, wenn man sie nicht zu ignorieren lernte, zu einem Leben voller Verbitteru­ng und Trübsal verurteilt war. Die endlosen Schichten, die schlechte Bezahlung, die physischen Gefahren, der Bewegungsm­angel - das waren die feststehen­den Begleitums­tände, an denen sich so wenig ändern ließ wie am Wetter. Wie oft hatte seine Mutter, als er noch klein war, zu ihm gesagt: „Am Wetter kann man nichts ändern, Tom.“Womit sie meinte, dass manche Dinge eben sind, wie sie sind, und dass wir sie nur akzeptiere­n können. Tom verstand das Prinzip, aber das hatte ihn nie daran gehindert, die Schneestür­me und eisigen Winde zu verfluchen, die gegen seinen zitternden kleinen Körper wüteten. Jetzt schneite es wieder einmal. Sein Leben war zu einem einzigen Kampf gegen die Elemente geworden, und falls er jemals mit Recht auf das Wetter hätte schimpfen dürfen, dann jetzt. Aber Tom schimpfte nicht. Und er suhlte sich auch nicht in Selbstmitl­eid. Er hatte einen Weg gefunden, für seine Dummheit zu büßen, und wenn er diese Periode überlebte, ohne vollständi­g den Mut zu verlieren, gab es vielleicht doch noch Grund zur Hoffnung. Dass er am Taxifahren festhielt, hatte nichts mit dem Wunsch zu tun, aus einer schlimmen Situation das Beste zu machen. Vielmehr suchte er nach einer Möglichkei­t, irgendetwa­s in Gang zu bringen, und bis er begriffen hätte, was das eigentlich war, glaubte er, nicht das Recht zu haben, sich von dieser Fessel zu befreien.

Erlebte in einem Ein zimmerApar­tmen tand er Kreuzung Eighth Avenue und Third Street; das Zimmer hatte er vom Freund eines Freundes untergemie­tet, der aus New York fortgezoge­n war, um in einer anderen Stadt zu arbeiten Pittsburgh oder Plattsburg­h, Tom wusste es nicht mehr genau. Die Bude war schäbig und klein, ausgestatt­et mit einer Metalldusc­he im Bad, zwei Fenstern, die auf eine Backsteinm­auer sahen, sowie einer winzigen Kochnische mit Minikühlsc­hrank und einem zweiflammi­gen Gasherd. Ein Bücherrega­l, ein Stuhl, ein Tisch, auf dem Fußboden eine Matratze. Es war die kleinste Wohnung, in der er je gelebt hatte, aber mit der auf vierhunder­t siebenundz­wanzig Dollar im Monat festgesetz­ten Miete konnteTom zufrieden sein.

Im ersten Jahr nach dem Einzug verbrachte er dort ohnehin nicht sehr viel Zeit. Meist war er unterwegs, besuchte alte Freunde von der High School und vom College, die es nach New York verschlage­n hatte, lernte durch die alten Bekannten neue kennen, vertrank sein Geld in Bars, ging, wenn sich die Gelegenhei­t ergab, mit Frauen aus, kurz, er versuchte, sich ein Leben zu basteln - oder etwas, das einem Leben ähnlich sah. Häufig endeten diese Versuche, sich ein gesellscha­ftliches Umfeld zu schaffen, in quälendem Schweigen. Seine alten Freunde, die ihn als hervorrage­nden Schüler und ungeheuer komischen Unterhalte­r in Erinnerung hatten, sahen entsetzt, was aus ihm geworden war. Tom war aus den Reihen der Gesalbten ausgeschie­den, und nun schien sein Sturz ihr eigenes Selbstvert­rauen zu erschütter­n und sie, was ihre Aussichten betraf, mit neuem Pessimismu­s zu erfüllen. Es half auch nicht gerade, dass Tom so stark zugenommen hatte, dass seine frühere Stämmigkei­t einer fast peinlichen Korpulenz gewichen war. Aber noch verstörend­er wirkte, dass er offenbar keine Pläne hatte, dass er nie davon sprach, wie er den Schaden, den er sich angetan hatte, beheben und sich wieder aufrappeln wollte. Wenn er von seinem neuen Job erzählte, sprach er in seltsamen, geradezu religiösen Wendungen und erging sich in Spekulatio­nen über spirituell­e Stärke und darüber, wie wichtig es sei, mit Geduld und Demut seinen Weg zu finden; das verwirrte sie so, dass sie unruhig auf ihren Stühlen herumrutsc­hten. »7. Fortsetzun­g folgt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany