Paul Auster: Die Brooklyn Revue (11)
IDeutsche Übersetzung von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
m Gegensatz zu den anderen jungen Künstlern, die Harry gefördert hatte, wollte Smith mit New York nichts zu tun haben. Er hatte bereits sechs Jahre dort gelebt und war, von jeder einzelnen Galerie in der Stadt abgewiesen, verbittert und zornig nach Chicago zurückgekehrt. Er schäumte vor Verachtung für die Kunstwelt und all die blutsaugerischen und raffgierigen Huren, die sie bevölkerten. Harry nannte Smith sein „mürrisches Genie“, doch seiner Barschheit und gelegentlichen Streitsucht zum Trotz verbarg sich unter Smiths rauer Schale doch ein weicher Kern. Er wusste, was Loyalität bedeutete, und hatte, einmal im Stall der Dunkel Frères untergekommen, nicht die Absicht, dort wieder auszubrechen. Harry war der Mann, der ihn vor dem Vergessen bewahrt hatte, und daher sollte Harry sein Leben lang derjenige sein, der Smiths Bilder unter die Leute brachte.
Harry hatte seinen ersten Künstler von wahrem Format entdeckt,
und in den folgenden acht Jahren blieb die Galerie dank Smiths Bildern in den schwarzen Zahlen. Nach dem Erfolg der Ausstellung von 1976 (alle siebzehn Bilder und einunddreißig Zeichnungen waren am Ende der zweiten Woche verkauft) verschwand Smith mit Frau und kleinem Sohn wie der geölte Blitz aus der Stadt und kaufte sich ein Haus in Oaxaca in Mexiko. Von da an rührte sich der Künstler nicht mehr vom Fleck, nie wieder setzte er einen Fuß nach Amerika - nicht einmal, um die jährlichen Ausstellungen seiner Arbeiten in Chicago zu besuchen, geschweige denn die Retrospektiven, die, als sein Ruhm wuchs, von Museen im ganzen Land veranstaltet wurden. Wenn Harry ihn sehen wollte, musste er nach Mexiko fliegen – das tat er etwa zweimal im Jahr –, im Übrigen aber hielt er Kontakt durch Briefe und gelegentliche Anrufe. Das alles stellte für den Leiter von Dunkel Frères kein Problem dar. Smiths Produktivität war erstaunlich, alle paar Mo- nate trafen Kisten mit neuen Gemälden und Zeichnungen in der Galerie in Chicago ein, die zu immer erfreulicheren Preisen Absatz fanden. Die Konstellation war ideal und hätte zweifellos noch viele Jahrzehnte Bestand gehabt, aber dann pumpte Smith sich drei Tage vor seinem vierzigsten Geburtstag mit Tequila voll und sprang vom Dach seines Hauses. Seine Frau sprach von einer albernen Torheit, die leider schief gegangen sei; seine Geliebte sprach von Selbstmord. So oder so, Alec Smith war tot, und das stolze Schiff Harry Dunkel begann zu sinken.
Auftritt des jungen Künstlers Gordon Dryer. Sechs Monate vor der Katastrophe mit Smith hatte Harry seine erste Ausstellung veranstaltet – nicht weil Dryers Werk ihn beeindruckte (strenge, allzu rationale abstrakte Gemälde, von denen kein einziges verkauft wurde und die insgesamt keine einzige positive Besprechung erhielten), sondern weil Dryer selbst eine unwiderstehliche Persönlichkeit war, ein Einunddreißigjähriger, der aussah wie achtzehn, mit einem zierlichen, femininen Gesicht, schmalen, marmorweißen Händen und einem Mund, den Harry am liebsten sofort geküsst hätte, als er ihn zum ersten Mal erblickte.
Nach sechzehn Ehejahren mit Bette wurde Toms zukünftiger Arbeitgeber schließlich schwach. Das war kein flüchtiges kleines Abenteuer, sondern ein Rausch, ein ausgewachsenes Delirium, eine Feuersbrunst an Liebe. Und der ehrgeizige Dryer, dem so sehr daran lag, sein Werk bei Dunkel Frères auszustellen, ließ sich bereitwillig von dem vierschrötigen, fünfzig Jahre alten Harry verführen. Vielleicht war es auch umgekehrt, und Dryer selbst war der Verführer.
Wie auch immer es dazu kam, es geschah, als der Galeriebesitzer das Atelier des Künstlers besuchte, um sich dessen neueste Bilder anzusehen. Der schöne Jüngling erriet Harrys Absichten schnell, und nach zwanzig Minuten belanglosen Geplauders über die Verdienste des geometrischen Minimalismus ging er lässig vor dem Händler in die Knie und zog ihm den Reißverschluss der Hose auf.
Nach der lauen Reaktion auf Dryers Ausstellung geriet der Reißverschluss immer öfter in Bewegung, und bald suchte Harry mehrmals die Woche das Atelier des Malers auf. Dryer machte sich Sorgen, dass Harry ihn von der Liste seiner Künstler streichen könnte, und hatte zum Ausgleich nichts als seinen Körper anzubieten. Harry bekam in seiner Verliebtheit nicht mit, dass er benutzt wurde, und wenn er es mitbekommen hätte, wäre es ihm wahrscheinlich egal gewesen. So töricht ist des Menschen Herz. Er hielt die Affäre vor Bette geheim, und da sich bei der fünfzehnjährigen Flora bereits die ersten Symptome einer fortschreitenden Schizophrenie bemerkbar machten, verbrachte er so viel Zeit zu Hause bei seiner Familie, wie sein Terminplan zuließ. Die Nachmittage waren für Gordon reserviert, abends jedoch schlüpfte er in die Rolle des pflichtgetreuen Gatten und Vaters zurück. Dann kam die niederschmetternde Nachricht vom Tode Smiths, und Harry geriet in Panik.
Er hatte noch etliche Bilder von ihm zu verkaufen, aber nach sechs Monaten oder einem Jahr wäre der Vorrat aufgebraucht. Und was dann? Dunkel Frères arbeitete auch so schon kaum kostendeckend, und Bette hatte bereits so viel Geld in die Galerie gesteckt, dass Harry sie unmöglich um weitere Unterstützung bitten konnte. Der plötzliche Ausfall Smiths bedeutete das Aus für seine Galerie. Wenn nicht heute, dann morgen, und wenn nicht morgen, dann übermorgen. Denn die Wahrheit sah so aus, dass Harry von Geschäften nicht die geringste Ahnung hatte. Er hatte sich darauf verlassen, dass der streitsüchtige Smith seine Ausschweifungen und Exzesse schon irgendwie finanzieren würde (die opulenten Partys und Festessen für zweihundert Leute, die Privatjets, die Autos mit Chauffeur, die schwachsinnigen Spekulationen mit zweit- und drittklassigen Talenten, die monatlichen Stipendien für Künstler, deren Werke sich nicht verkauften), aber die Gans hatte in Mexiko den Abflug gemacht und würde ihm künftig keine goldenen Eier mehr legen.
Hier nun kam Dryer mit seinem Plan, der Harry von seinen Sorgen erlösen sollte. Das mit dem Sex war ja gut und schön, aber wenn er sich wirklich unentbehrlich machen konnte, wäre seine Karriere als Künstler gesichert. Dryers Arbeiten mochten von kaltem Intellektualismus geprägt sein, aber er besaß ein enormes natürliches Talent für Komposition und Farbgebung. Dieses Talent hatte er zugunsten einer Idee unterdrückt, zugunsten einer Auffassung von Kunst, die Strenge und Genauigkeit über alles stellte. Er hasste Smiths überschwänglichen Sinn für das Romantische mit seinen blumigen Gesten und schwülstigen Anwandlungen, aber das bedeutete nicht, dass er diesen Stil nicht nachahmen konnte, wenn er wollte. Warum also sollte er nach Smiths Tod nicht dessen Werk fortsetzen? Die letzten Gemälde des jungen Meisters, den es in der Blüte seiner Jahre dahingerafft hatte?