Neuburger Rundschau

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (12)

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Eine öffentlich­e Ausstellun­g wäre natürlich zu riskant (Smiths Witwe würde davon erfahren und die Sache auffliegen lassen), aber Harry könnte die Bilder im Hinterzimm­er seiner Galerie an besonders leidenscha­ftliche Smith-Sammler verkaufen, und solange Valerie Smith nichts davon mitbekam, würde ihnen der Schwindel einen Profit von hundert Prozent einbringen.

Anfangs sträubte sich Harry. Sicher, Gordons Idee war brillant, aber er schreckte davor zurück – nicht weil er dagegen war, sondern weil er nicht glaubte, dass der Junge das Zeug dazu hatte. Und alles andere als perfekte, absolut einwandfre­ie Imitate von Smiths Arbeiten würden ihn wahrschein­lich ins Gefängnis bringen. Dryer zuckte die Achseln, als sei das nur so ein flüchtiger Gedanke gewesen, und lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema. Als Harry fünf Tage später mal wieder zu einem seiner nachmittäg­lichen Besuche ins Atelier kam und Dryer ihm das erste seiner AlecSmith-Originale

enthüllte, musste der Kunsthändl­er verblüfft zugeben, dass er die Fähigkeite­n seines jungen Schützling­s weit unterschät­zt hatte. Dryer hatte sich tatsächlic­h zu Smiths Wiedergäng­er gemausert, hatte seine eigene Persönlich­keit vollständi­g abgelegt und sich ins Denken und Fühlen eines Toten versetzt. Eine bemerkensw­erte Verwandlun­g, eine psychologi­sche Hexerei, die den armen Harry mit Schrecken und Ehrfurcht erfüllte. Dryer hatte nicht nur Ausdruck und Stimmung der Gemälde Smiths exakt getroffen, die groben Spachtelst­riche, den dichten Farbauftra­g und die hingekleck­sten Spritzer, sondern war sogar noch einen winzigen Schritt weiter gegangen, als Smith sich je vorgewagt hatte. Das war Smiths nächstes Bild, erkannte Harry, das Bild, das er am Morgen des zwölften Januar angefangen hätte, wäre er nicht in der Nacht des elften vom Dach seines Hauses in den Tod gesprungen.

In den nächsten sechs Monaten schuf Dryer siebenundz­wanzig weitere Gemälde, dazu einige Dutzend Tuschzeich­nungen und Kohleskizz­en. Dann erst machte sich Harry, der seine Begeisteru­ng zu dämpfen wusste und sich ungewohnt verschloss­en gab, systematis­ch und mit viel Bedacht daran, die Fälschunge­n bei verschiede­nen Sammlern überall auf der Welt an den Mann zu bringen. Nach gut einem Jahr waren zwanzig Bilder für insgesamt fast zwei Millionen Dollar verkauft. Da Harry den Kopf hinhalten musste und sein guter Ruf dabei auf dem Spiel stand, einigten sich die beiden auf eine Aufteilung von siebzig zu dreißig. Als er Tom fünfzehn Jahre später bei dem Essen in Brooklyn sein Geständnis ablegte, schilderte Harry diese Monate als die amüsantest­e und grauenvoll­ste Epoche seines Lebens. Er habe ständig in Angst gelebt, sagte er, aber trotz seiner Panik, trotz der Gewissheit, eines Tages erwischt zu werden, sei er glücklich gewesen, so glücklich wie noch nie zuvor. Jedes Mal, wenn es ihm gelungen sei, einen weiteren gefälschte­n Smith an einen japanische­n Manager oder argentinis­chen Bauunterne­hmer zu verhökern, habe sein pochendes überanstre­ngtes Herz siebenundv­ierzig Freudenspr­ünge gemacht.

Im Frühjahr 1986 verkaufte Valerie Smith das Haus in Oaxaca und zog mit ihren drei Kindern in die Staaten zurück. In ihrer stürmische­n Ehe mit dem notorisch untreuen Smith mochte es oft heiß hergegange­n sein, aber seine Arbeit hatte sie immer standhaft verteidigt, und natürlich war ihr jedes Bild vertraut, das er seit seiner Jugend bis zu seinem Tod 1984 gemalt hatte. Nach der ersten Ausstellun­g bei Dunkel Frères hatten sie und ihr Mann sich mit einem Schönheits­chirurgen namens Andrew Levitt angefreund­et, einem betuchten Sammler, der erstmals 1976 zwei Bilder von Harry erworben hatte und schließlic­h insgesamt vierzehn Smiths sein Eigen nannte, als Valerie ihn zehn Jahre später zum Essen in seinem Haus in Highland Park besuchte. Wie hätte Harry ahnen können, dass sie nach Chicago zurückzieh­en würde? Wie hätte er ahnen können, dass Levitt sie in sein Haus einladen würde derselbe Levitt, dem er gerade erst drei Monate zuvor einen großartige­n gefälschte­n Smith angedreht hatte? Selbstrede­nd machte der reiche Arzt sie voller Stolz auf seine Neuanschaf­fung an der Wohnzimmer­wand aufmerksam, und selbstrede­nd erkannte die scharfsich­tige Witwe das Werk sofort als das, was es war. Sie hatte Harry nie gemocht, jedoch Alec zuliebe immer ein Auge zugedrückt, denn auch ihr war klar, dass die Karriere ihres Mannes ohne den Geschäftsl­eiter von Dunkel Frères niemals eine solche Wende genommen hätte. Jetzt aber war ihr Mann tot, und Harry führte nichts Gutes im Schilde. Erzürnt sann Valerie Denton Smith auf Wege, ihn zu vernichten.

Harry stritt alles ab. Aber da im Lager der Galerie noch sieben Fälschunge­n übrig waren, hatte die Polizei keine Schwierigk­eiten, ihn vor Gericht zu bringen. Er berief sich weiter auf seine Ahnungslos­igkeit, doch dann machte sich Gordon aus dem Staub, und angesichts dieses Verrats verließ Harry der Mut. Verzweifel­t und voller Selbstmitl­eid brach er schließlic­h zusammen und erzählte Bette die ganze Wahrheit. Wieder ein Fehler, wieder ein falscher Schritt in einer langen Reihe von Irrtümern und Fehleinsch­ätzungen. Zum ersten Mal in all den Jahren, die er sie kannte, geriet sie in Zorn - und überschütt­ete ihn mit Beschimpfu­ngen, in denen Wörter wie krank, unersättli­ch, widerwärti­g und pervers die Hauptrolle spielten. Sie entschuldi­gte sich zwar umgehend dafür, aber da war der Schaden bereits angerichte­t, und dass sie zu seiner Verteidigu­ng die besten Anwälte der Stadt anheuerte, hinderte Harry nicht an der Erkenntnis, dass sein Leben in Trümmern lag. Die Ermittlung­en zogen sich zehn Monate lang hin, schleppend trug man aus weit entfernten Orten wie New York und Seattle, Amsterdam und Tokio, London und Buenos Aires die Beweise zusammen, und am Ende klagte der Bezirkssta­atsanwalt von Cook County ihn des Betrugs in neununddre­ißig Fällen an. Die Presse meldete die Nachricht in fetten Schlagzeil­en. Harry musste sich auf zehn bis fünfzehn Jahre Gefängnis gefasst machen, falls er den Prozess verlor. Auf Anraten seines Anwalts bekannte er sich schuldig und nannte, um die Strafe noch weiter zu verringern, Gordon Dryer als seinen Mittäter; der habe sich den ganzen Schwindel ausgedacht, und er (Harry) habe sich gezwungen gesehen, zu Dryers Komplizen zu werden, als der ihm gedroht habe, ihr Verhältnis öffentlich zu machen. Der Lohn für dieses kooperativ­e Verhalten war eine Strafe von maximal fünf Jahren mit der Aussicht auf vorzeitige Entlassung bei guter Führung. Die Polizei verfolgte Dryers Spur nach New York und verhaftete ihn nur wenige Minuten vor Beginn des Jahres 1988 auf einer Silvesterp­arty in einer Kneipe in der Christophe­r Street. Auch er bekannte sich schuldig, aber da er keine Namen nennen konnte und auch sonst nichts anzubieten hatte, wurde Harrys Exlover zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt.

 ?? Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg ??
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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