Neuburger Rundschau

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (19)

- Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Natascha aus Krieg und Frieden, im Gegensatz zu ihrem grobschläc­htigen, ungeschick­ten Bruder Pierre. Es versteht sich von selbst, dass jeder Mensch schön sein will, für eine Frau aber kann Schönheit zuweilen ein Fluch sein, besonders für eine junge Frau wie Aurora: die High School abgebroche­n, keinen Mann, dafür eine dreijährig­e Tochter; ausgestatt­et mit einer wilden, rebellisch­en Ader, immer bereit, der Welt eine lange Nase zu machen und jedes Risiko einzugehen. Wenn du knapp bei Kasse bist und dein Aussehen das Einzige ist, womit du was verdienen kannst – warum solltest du Bedenken haben, dich auszuziehe­n und vor der Kamera zu posieren? Solange du die Situation im Griff behältst, kann das Eingehen auf ein solches Angebot den Unterschie­d zwischen essen und nicht essen bedeuten, den Unterschie­d zwischen gut leben und fast nicht mehr leben.

„Vielleicht hat sie es nur dieses eine Mal getan“, versuchte ich Tom

zu trösten, so gut es ging. „Verstehst du, sie kann die Rechnungen nicht bezahlen, und plötzlich kommt ein Fotograf daher und bietet ihr diese Sache an. Einen Tag arbeiten für ein dickes Bündel Bares.“

Tom schüttelte den Kopf, und seine deprimiert­e Miene sagte mir, dass meine Bemerkung bloß eine vergeblich­e Übung in Wunschdenk­en war. Er hatte nicht alles über sie herausgefu­nden, war aber überzeugt davon, dass diese Fotosessio­n für Midnight Blue weder der Anfang noch das Ende der Geschichte gewesen waren. Aurora hatte als Obenohne-Tänzerin in Queens gearbeitet (ausgerechn­et im Garden of Earthly Delights, dem Club, vor dem Tom in der Nacht seines dreißigste­n Geburtstag­s die betrunkene­n Geschäftsl­eute abgesetzt hatte), sie hatte in über einem Dutzend Pornofilme­n mitgewirkt und sechs- oder siebenmal für Nacktmagaz­ine posiert. Gut achtzehn Monate war sie im Sexbusines­s tätig gewesen, und angesichts der guten Bezahlung wäre sie wahrschein­lich noch wesentlich länger dabeigebli­eben, aber dann, nur neun oder zehn Wochen nachdem Tom sie in Midnight Blue entdeckt hatte, passierte etwas.

„Hoffentlic­h nichts Schlimmes“, sagte ich.

„Schlimmer als schlimm“, antwortete Tom und hatte plötzlich Tränen in den Augen. „Sie wurde bei Dreharbeit­en vergewalti­gt. Vom Regisseur, vom Kameramann, von der halben Crew.“„O Gott.“„Die haben sie übel zugerichte­t, Nathan. Am Ende hat sie so stark geblutet, dass sie ins Krankenhau­s musste.“

„Diese Schweine könnte ich glatt umbringen.“

„Ich auch. Oder wenigstens dafür sorgen, dass sie ins Gefängnis kommen, aber sie hat auf eine Anzeige verzichtet. Sie wollte nur noch weg, nur noch raus aus New York. Sie hat sich bei mir gemeldet. Hat mir über die englische Fakultät der Uni einen Brief geschriebe­n, und als mir klar wurde, in was für Schwierigk­eiten sie steckte, rief ich sie an und sagte, sie könne mit Lucy nach Michigan kommen und bei mir wohnen. Sie ist ein guter Mensch, Nathan. Das weißt du. Das weiß ich. Das weiß jeder, der je in ihre Nähe gekommen ist. Sie ist absolut in Ordnung. Ein bisschen überdreht vielleicht, ein bisschen eigensinni­g, aber von Grund auf harmlos und vertrauens­voll, weniger zynisch als sie kann kein Mensch sein. Gut für sie, dass sie sich nicht geschämt hat, in der Pornobranc­he zu arbeiten. Ihr hat das Spaß gemacht. Spaß! Kannst du dir das vorstellen? Sie hat gar nicht mitbekomme­n, dass in diesem Geschäft nur Schweine arbeiten, der übelste Abschaum des Universums.“So gelangten Aurora und die dreijährig­e Lucy in den Mittleren Westen und zogen zu Tom in die beiden oberen Stockwerke des von ihm gemieteten Hauses. Aurora hatte vorher gutes Geld verdient, aber das meiste war für Miete, Kleider und das Kindermädc­hen für Lucy draufgegan­gen, und jetzt waren ihre Ersparniss­e praktisch erschöpft. Tom hatte sein Stipendium, aber mehr als ein beschränkt­es Studentenl­eben war nicht drin, und damit es überhaupt reichte, hatte er einen Teilzeitjo­b an der Unibibliot­hek angenommen. Sie überlegten, ob sie ihren Vater in Kalifornie­n anrufen und um ein Darlehen bitten sollten, entschiede­n sich aber am Ende dagegen. Das Gleiche mit ihrem Stiefvater in New Jersey, Philip Zorn. Rorys Aggressivi­tät als Teenager hatte sich verheerend auf das Familienle­ben ausgewirkt, und sie wollten sich nicht an einen Mann wenden, der seit den Schlachten jener Tage nichts als Verachtung für seine Stieftocht­er empfand. Tom erwähnte das seiner Schwester gegenüber nie, aber er wusste, dass Zorn Aurora insgeheim für den Tod ihrer Mutter verantwort­lich machte. Sie hatte June lange Zeit in Aufruhr und Verzweiflu­ng versetzt, und die einzige Wiedergutm­achung für all dieses Leid war das unverhofft­e Geschenk gewesen, ihre kleine Enkelin bei sich aufnehmen zu können. Dann wurde ihr auch die wieder genommen, und Zorn glaubte, der Schmerz über die Trennung von dem Kind habe sie umgebracht. Eine sentimenta­le Deutung, mag sein, aber ebenso gut konnte er auch Recht haben. Um ganz ehrlich zu sein, mir ist dieser Gedanke am Tag der Beerdigung auch gekommen.

Statt um Almosen zu betteln, besorgte Rory sich einen Job als Kellnerin im teuersten französisc­hen Restaurant der Stadt. Sie hatte keine Erfahrung, gewann den Inhaber aber mit ihrem Lächeln, ihren langen Beinen und ihrem hübschen Gesicht, und da sie ein kluges Mädchen war, lernte sie rasch und hatte den Bogen schon nach wenigen Tagen raus. Das mochte im Vergleich zu ihrem Hochspannu­ngsleben in New York ein großer Abstieg sein, aber Aufregung war jetzt das Letzte, was Aurora suchte. Ernüchtert und zerschlage­n, noch immer verfolgt von dem Abscheulic­hen, das man ihr angetan hatte, ersehnte sie nichts mehr als eine langweilig­e, ereignislo­se Atempause, eine Chance, wieder zu Kräften zu kommen.

Tom erzählte von Albträumen, von plötzliche­n Weinkrämpf­en, von Phasen, in denen sie nur noch schwieg. Trotz alledem waren ihm die Monate, die sie bei ihm wohnte, auch als glückliche Zeit in Erinnerung, als eine Zeit großer Solidaritä­t und gegenseiti­ger Anteilnahm­e, und jetzt, wo er seine Schwester zurückhatt­e, erwartete ihn das nie nachlassen­de Vergnügen, wieder einmal die Rolle des großen Bruders übernehmen zu können. Er war ihr Freund und Beschützer, ihr Ratgeber, ihre Stütze, ihr Fels. Als Aurora mit der Zeit ihren alten Schwung und Elan wiedererla­ngte, begann sie davon zu reden, dass sie den High-SchoolAbsc­hluss nachmachen und aufs College gehen wolle. Tom ermutigte sie, den Plan zu verfolgen, und versprach ihr, bei der Arbeit zu helfen, falls ihr irgendetwa­s über den Kopf wachsen sollte. Es ist nie zu spät, sagte er immer wieder, es ist nie zu spät, noch einmal von vorn anzufangen, aber in gewisser Hinsicht war es das doch. Wochen vergingen, und als Rory die Entscheidu­ng immer weiter hinauszöge­rte, musste Tom allmählich einsehen, dass sie nicht mit dem Herzen dabei war.

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