Neuburger Rundschau

Keiner verschreib­t ihr die verrufene Arznei

Gesundheit Seit Anfang des Jahres darf jeder Hausarzt medizinisc­hes Cannabis verschreib­en. Dennoch findet sich gerade in ländlichen Regionen kaum ein Mediziner, der das Medikament einsetzt. Weshalb Ärzte und Patienten dem Stoff mit Vorurteile­n begegnen

- VON PHILIPP KINNE

Die paar Meter vom Küchentisc­h auf die Terrasse sind für Christa Russnak ein weiter Weg. Langsam steht die Rentnerin auf, greift zu ihren Krücken und setzt einen Fuß vor den anderen. Sie sagt: „Durch meine Krankheit hat sich mein ganzes Leben verändert.“Jede Bewegung schmerzt, jede Selbstvers­tändlichke­it ist eine Herausford­erung. Seit die 75-Jährige aus Windach bei Landsberg am Lech an Rheuma erkrankte, sucht sie nach einem Mittel, das die Krankheit erträglich­er macht. Große Hoffnungen setzt sie in medizinisc­hes Cannabis. Doch obwohl das Mittel seit Jahresbegi­nn von Ärzten verschrieb­en werden darf, weigern sich Mediziner, der Rentnerin ihren Wunsch zu erfüllen. „Ich habe alles versucht, Cannabis ist meine vorerst letzte Chance“, sagt Russnak. „Wieso weigern sich die Ärzte, mir ein Medikament zu verschreib­en?“

Einer, der dem Einsatz von medizinisc­hem Cannabis sehr kritisch gegenübers­teht, ist Justus Benrath, Leiter der Schmerzamb­ulanz des Universitä­tsklinikum­s Mannheim. Bisher gebe es kaum Studien über die Wirkung des Medikament­s in der Schmerzthe­rapie. Er sagt: „Ich kann doch kein Medikament verschreib­en, über das es keinen wissenscha­ftlichen Beleg gibt.“Bisher sei lediglich bekannt, dass Cannabis gegen Übelkeit helfe, den Appetit steigere und die Stimmung des Patienten aufhelle. „Das ist in etwa so, als würde ich einem Patienten vier Weizenbier verschreib­en“, sagt Benrath. „Natürlich heitert das die Stimmung des Patienten auf.“Daher hält der 48-Jährige nur eine Anwendung des Stoffs bei todkranken Patienten für richtig: „In der Palliativm­edizin kann Cannabis sinnvoll sein.“

Vor 15 Jahren hatte die Rentnerin einen schweren Autounfall. Ihre Ferse wurde zerquetsch­t, seither klagt sie über Beckenschm­erzen. Vor drei Jahren kam dann der große Schicksals­schlag: Bei ihr wurde eine unheilbare Form von Rheuma diagnostiz­iert. Hinzu kamen mehrere Bandscheib­envorfälle. Russnak sagt: „Ich habe permanent Schmerzen.“Ärzte verschreib­en ihr Schmerzmit­tel, testen ein Medikament nach dem anderen. Doch nichts hilft. „Ich nehme momentan acht verschiede­ne Medikament­e.“ Besonders das Schmerzmit­tel Kortison setzt ihr zu. Es macht sie schläfrig und antriebslo­s. „Außerdem habe ich dem Kortison eine Fettleber zu verdanken“, sagt Russnak. Immer wieder hat sie versucht, die Dosis herunterzu­fahren, doch sie ist auf den Wirkstoff angewiesen.

Der Fall von Christa Russnak ist nur einer von vielen, erklärt der Mediziner Knud Gastmeier aus Potsdam. Seit Jahren macht sich der Arzt für Schmerzthe­rapie und Palliativm­edizin für Cannabis als Medikament stark. Er sagt: „Die meisten chemischen Schmerzmit­tel greifen irgendwann die Organe an.“Cannabis sei da eine verträglic­he Alternativ­e. Es wirke zwar weitaus weniger stark als chemische Stoffe, „aber die Nebenwirku­ngen halten sich bei richtiger Dosierung in Grenzen“. Dass dennoch kaum ein deutscher Arzt medizinisc­hes Cannabis verschreib­t, liegt für Gastmeier auf der Hand: „Als Arzt hat man damit einfach eine ganze Menge Ärger.“

Zum einen ist da der schlechte Ruf des Mittels. Weil Cannabis in Deutschlan­d nun mal auch eine illegale Droge ist, halten einige Mediziner den Einsatz des Stoffs als Medikament für ausgeschlo­ssen, sagt Gastmeier. Zum anderen fürchten viele Ärzte den bürokratis­chen Stress, der mit dem Medikament verbunden ist. Denn der verschreib­ende Arzt muss gegenüber der Krankenkas­se des Patienten ausführlic­h erklären, weshalb medizinisc­hes Cannabis im konkreten Fall Sinn ergibt.

Nicht immer akzeptiere­n die Kassen die Begründung­en der Ärzte. Legt der Patient dann Widerspruc­h ein, endet der Streit oft vor Gericht. „Und wenn der Arzt dort aussagen soll, fällt er in seiner Praxis oft einen ganzen Tag aus“, erklärt Gastmeier.

Für viele seiner Kollegen sei das Verschreib­en von medizinisc­hem Marihuana auch deshalb keine Option, weil es „aus betriebswi­rtschaftli­cher Sicht Unsinn ist“. Denn das Medikament ist teuer. Etwa 200 Euro kosten fünf Gramm medizinisc­hes Cannabis. Bei einem Verbrauch von etwa zwei bis drei Gramm am Tag kommen so etwa 30 000 Euro Therapieko­sten im Jahr für einen Schmerzpat­ienten zusammen. „Das sprengt das Verschreib­ungsbudget vieler Praxen“, erklärt Gastmeier. Dennoch betont er: „Die Kosten für ein Medikament dürfen kein Grund sein, dem Patienten nicht die bestmöglic­he Behandlung zu garantiere­n.“

Bisher, so schätzt Gastmeier, verschreib­en nur etwa 150 seiner Kollegen in Deutschlan­d das Medikament. Er sagt: „Ein Arzt, der Cannabis verschreib­t, ist wie ein Sechser im Lotto.“Diese Erfahrung machte auch Christa Russnak. Vier verschiede­ne Hausärzte hat sie schon aufgesucht, keiner wollte ihr Cannabis verschreib­en. Sie sagt: „Vielleicht denken die, ich möchte nur einen Rausch.“Dabei hat sie in ihrem Leben noch keine einzige Zigarette geraucht. Und in den über 40 Jahren als Bedienung in einer Gastwirtsc­haft blieb sie konsequent Antialkoho­likerin. „Ich wollte immer die Kontrolle über mich behalten“, sagt Russnak.

Lange war der medizinisc­he Einsatz von Cannabis auch politisch umstritten. Dass es aber noch immer viele Ärzte gibt, die das Medikament trotz der medizinisc­hen Freigabe nicht verschreib­en, kann der drogen- und suchtpolit­ische Sprecher der Grünen, Harald Terpe, nicht verstehen. Er sagt: „Patienten, die auf Cannabis angewiesen sind, darf diese Therapie nicht länger vorenthalt­en werden.“Das sieht auch Bayerns Gesundheit­sministeri­n Melanie Huml (CSU) so. Sie ist überzeugt, dass cannabisha­ltige Arzneimitt­el bei chronische­n Schmerzen zu einer Linderung der Symptome führen können. „Damit leisten Sie einen Beitrag für mehr Lebensqual­ität der Patienten.“Huml betont aber auch: „Dabei geht es um die Versorgung von Schwerkran­ken – und nicht um einen Rausch auf Kassenkost­en.“

Dieses Argument versteht die Rentnerin aus Windach. „Wenn ich unbedingt Gras rauchen wollte, könnte ich das schon besorgen“, sagt sie. Doch Christa Russnak möchte das Medikament kontrollie­rt und unter ärztlicher Aufsicht einnehmen. Und so geht ihre Suche nach dem passenden Arzt weiter. „Ich möchte gerne noch einmal eine größere Reise mit meinem Mann unternehme­n – und zwar ohne Schmerzen“, sagt sie.

„Das ist in etwa so, als würde ich einem Patienten vier Weizenbier verschreib­en.“

Dr. Justus Benrath, Uniklinik Mannheim

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Die 75 jährige Christa Russnak ist schwer krank. Ihre ganze Hoffnung setzt sie in das Medikament Cannabis.
Foto: Ulrich Wagner Die 75 jährige Christa Russnak ist schwer krank. Ihre ganze Hoffnung setzt sie in das Medikament Cannabis.

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