Das Unbehagen mit der zeitgenössischen Kunst
Leitartikel Würde Duchamps signiertes Pinkelbecken heute versteigert, würde es teurer sein als der teuerste Rubens. Es gibt Grund zur Klage – und zu stetiger Kunstliebe
Wenn in diesem Sommer – wie alle zehn Jahre – drei große internationale Ausstellungen zeitgenössischer Kunst zusammenfallen, nämlich die Kasseler Documenta, die Biennale Venedig und die Skulptur Projekte in Münster, dann wird wieder besonders heftig darüber debattiert, was Kunst soll – am Biertisch schlicht oder mit gesundem Menschenverstand, unter sogenannten Experten mit Köpfchen oder irre verkopft. Und es wird wieder Unbehagen laut werden über die Werke der zeitgenössischen Kunst und deren Schöpfer, die in ihren Abstraktionsleistungen so schwer zu verstehen sind. Es ist ein grassierendes Unbehagen weit über jene kunstfernen Menschen hinaus, die als Klein- oder Großkrämer jegliche Ästhetik nur daraufhin betrachten, ob sie sich rechnet und rasch Mehrwert abwirft.
Die Schleife des Unbehagens währt schon länger als genau die 100 Jahre, die vergangen sind, seitdem Marcel Duchamp ein Pinkelbecken signierte und somit zum Kunstwerk erklärte. Mittlerweile sind Kunstbegriff und Unbehagen mehrfach ausgeweitet beziehungsweise erneuert worden; seitdem wird aus vordem eurozentrischer Perspektive auch anderen Kulturen ernsthaft zugestanden, bedeutende zeitgenössische Kunst entwickeln zu können. Jetzt, in Kassel, stehen übrigens speziell die indigenen Völker im Brennpunkt.
Parallel zur Ausweitung und Ausdehnung des Kunstbegriffes ging eine andersgeartete Entwicklung einher: der Hang zu immer „größerer“Kunst – jedenfalls, was die Abmessungen anbelangt. Riesig soll es sein, spektakulär, auffällig, sensationell, verrückt. Und damit wie geschaffen für die Medien.
Darüber ein Unbehagen zu verspüren, ist gewiss verständlich – erst recht, wenn Fragen nach dem Sinn (oder nach der zeichenhaften Bedeutung wenigstens) oft weder bohrend gestellt noch zufriedenstellend beantwortet werden. Als ob Kunst per se sakrosankt wäre; als ob ein jeder sich vor ihr ehrfürchtig zu beugen habe; als ob es ein Gebot gäbe, Kunst nicht abklopfen zu dürfen auf ihren erwartbaren Erkenntnisgewinn. Wirkliche Kritik wird heute immer weniger geleistet. Alles scheint gleich gültig – und damit auch gleichgültig.
Kommt hinzu, dass auf der anderen Seite – bei Produzenten, Vermittlern, Vertreibern – nicht selten ein Hochmut herrscht, der offenbar einschüchtern soll. Regelmäßig wird der Kunst mit dem immer selben bizarr-überspannten Vokabular so etwas wie Bedeutung zugedichtet. Wortgeklingel soll gerade das Banale emporhebeln. Und so sorgt ungenügende Erläuterung stetig auch zu Abwehr gegenüber neuer Kunst, für deren Verständnis ja sowieso immer wieder neue „Sprachen“zu erlernen sind. Das ist heute nicht anders als vor 500 Jahren mit der damaligen Symbolik.
Der entfesselte Kunstmarkt gibt dann den Rest zum Unbehagen: Plötzlich ist mittelmäßige neue Kunst gegenüber bestechender alter Kunst das Zigfache wert; Galeristen beschießen ihr Publikum unisono mit dem Satz „Jetzt noch günstig zu haben!“; Superreiche mit und ohne Geschmack ersteigern Jagdtrophäen, die Bildung und Stilgefühl beglaubigen (sollen).
Ja, so ist das. Und doch werden – mit Unbehagen – die Fixsterne der neuen Kunst 2017 abermals wieder überrannt werden, kommende Woche auch die weltweit bedeutendste Messe „Art Basel“. Denn die Disziplin Kunst schreitet wie die Zeit weiter – als ihr Spiegel. Mit oder ohne Unbehagen. Und immer wieder bleibt spannend, wie beide sich entwickeln, welche vielversprechenden Talente mit welcher neuen Ästhetik auftauchen, was prägend und künftig Bestand haben kann, was vergessen werden dürfte. Es gibt den künstlerischen Wettstreit genauso wie den sportlichen.
Den Wettstreit gibt es in der Kunst wie im Sport