Paul Auster: Die Brooklyn Revue (42)
Und Kafka ist dein Lieblingsautor.“„Ich glaube schon. Jedenfalls aus dem 20. Jahrhundert.“
„Warum hast du deine Dissertation nicht über ihn geschrieben?“
„Weil ich dumm war. Und weil ich Amerikanist werden wollte.“
„Hat er nicht Amerika geschrieben?“
„Ha ha. Guter Einwand. Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?“
„Ich erinnere mich an seine Beschreibung der Freiheitsstatue. Statt einer Fackel reckt das alte Mädchen ein Schwert in die Luft. Ein unglaubliches Bild. Es bringt einen zum Lachen und macht einem gleichzeitig eine Heidenangst. Könnte aus einem Albtraum sein.“„Du hast Kafka also gelesen.“„Einiges. Die Romane und vielleicht ein Dutzend Erzählungen. Aber das ist schon lange her, damals, als ich in deinem Alter war. Nur vergisst man Kafka nicht. Sobald man sich einmal
mit ihm beschäftigt hat, lässt er einen nicht mehr los.“
„Hast du mal in die Tagebücher und Briefe reingesehen? Hast du mal eine Biographie gelesen?“
„Du kennst mich doch, Tom. Ich bin kein sehr ernsthafter Mensch.“
„Ein Jammer. Je mehr du über sein Leben erfährst, desto interessanter werden seine Bücher. Kafka war nicht bloß ein großer Schriftsteller, er war vielmehr auch als Mensch bemerkenswert. Kennst du die Geschichte mit der Puppe?“„Nicht dass ich wüsste.“„Ah. Dann hör mir genau zu. Ich erzähle sie dir als ersten Beweis für meine Behauptung.“
„Ich weiß nicht, ob ich dir folgen kann.“
„Ist doch ganz einfach. Ich will dir beweisen, dass Kafka in der Tat ein ganz außerordentlicher Mensch war. Warum ich dazu als Erstes diese Anekdote nehme? Ich weiß nicht. Aber seit Lucy gestern Morgen aufgetaucht ist, ist mir die Geschichte nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Offenbar gibt es da einen Zusammenhang. Ich bin mir noch nicht ganz schlüssig, glaube aber, dass darin eine Botschaft an uns steckt, vielleicht ein Hinweis, wie wir uns zu verhalten haben.“
„Lass die lange Einleitung, Tom. Komm einfach zur Sache und fang an.“
„Ich schwafle mal wieder, stimmt’s? Die Sonne, die vielen Autos, freie Fahrt mit sechzig, siebzig Meilen die Stunde. Bei so was explodiert mein Gehirn, Nathan. Ich fühle mich wie neugeboren, zu allem bereit.“
„Gut. Dann erzähl mir jetzt die Geschichte.“
„Also schön. Die Geschichte. Die Geschichte mit der Puppe … Es ist Kafkas letztes Lebensjahr, er hat sich in Dora Diamant verliebt, eine junge Frau von neunzehn oder zwanzig Jahren, die von ihrer chassidischen Familie in Polen fortgelaufen ist und jetzt in Berlin lebt. Sie ist halb so alt wie er, und doch ist sie es, die ihm den Mut gibt, Prag zu verlassen - was er seit Jahren hat tun wollen –, und sie wird die erste und einzige Frau, mit der er jemals zusammengelebt hat.
Im Herbst 1923 kommt er nach Berlin, im Frühjahr darauf stirbt er; aber diese letzten Monate sind wahrscheinlich die glücklichsten seines Lebens. Trotz seines immer schlechteren Gesundheitszustandes. Trotz der gesellschaftlichen Verhältnisse in Berlin: Nahrungsmittelknappheit, politische Krawalle, die schlimmste Inflation der deutschen Geschichte. Trotz der Gewissheit, dass er nicht mehr lange auf dieser Welt leben wird.
Jeden Nachmittag geht Kafka im Park spazieren. Dora kommt meistens mit. Eines Tages begegnen sie einem kleinen Mädchen, es weint und ist vollkommen außer sich vor Schmerz.
Kafka fragt die Kleine, was denn los ist, und sie sagt, sie hat ihre Puppe verloren. Und er denkt sich auf der Stelle eine Geschichte aus, um zu erklären, was da passiert ist. ,Deine Puppe macht nur gerade eine Reise‘, sagt er. ,Woher weißt du das?‘, fragt das Mädchen. ,Weil sie mir einen Brief geschickt hat‘, sagt Kafka. Das Mädchen scheint misstrauisch. ,Hast du ihn bei dir?‘, fragt es. ,Nein‘, sagt er, ‘ich habe ihn zu Hause liegen lassen, aber ich werde ihn dir morgen mitbringen.‘ Er spricht so überzeugend, dass die Kleine nicht mehr weiß, was sie denken soll. Ist es denn möglich, dass der seltsame Fremde die Wahrheit sagt?
Kafka kehrt sofort nach Hause zurück, um den Brief zu schreiben. Er setzt sich an seinen Schreibtisch, und Dora, die ihn beobachtet, bemerkt, dass er mit der gleichen Ernsthaftigkeit und Spannung zu Werke geht wie bei seiner schriftstellerischen Arbeit. Er hat nicht vor, das kleine Mädchen hinters Licht zu führen.
Das ist echte literarische Anstrengung, denn er will das unbedingt richtig hinbekommen. Er braucht eine schöne, überzeugende Lügengeschichte, die den Verlust des Mädchens durch eine andere Wirklichkeit ersetzen soll – eine falsche Wirklichkeit, mag sein, aber wahr und glaubhaft nach den Gesetzen der Dichtung.
Am nächsten Tag eilt Kafka mit dem Brief in den Park zurück. Die Kleine wartet schon auf ihn, und da sie noch nicht lesen kann, liest er ihr den Brief vor. Die Puppe ist untröstlich, aber sie konnte es einfach nicht mehr ertragen, immer mit denselben Menschen zusammen zu sein. Sie will in die weite Welt hinaus und neue Freunde kennen lernen. Natürlich hat sie das kleine Mädchen sehr gern, aber sie sehnt sich nach Abwechslung, und daher müssen sie sich für eine Weile trennen. Zum Schluss verspricht die Puppe, der Kleinen täglich zu schreiben und sie über ihre Erlebnisse auf dem Laufenden zu halten.
An dieser Stelle wird die Geschichte nun wahrlich herzzerreißend. Es ist ja schon erstaunlich genug, dass Kafka die Mühe auf sich genommen und diesen ersten Brief geschrieben hat, nun aber verpflichtet er sich, täglich einen neuen Brief zu schreiben – und das nur, um dieses kleine Mädchen zu trösten, ein ihm vollkommen fremdes Kind, das er zufällig eines Nachmittags im Park getroffen hat. Welcher Mann tut so etwas schon? Er hat das drei Wochen lang durchgehalten, Nathan. Drei Wochen. Einer der größten Schriftsteller aller Zeiten opfert seine Zeit – seine schwindende, immer kostbarer werdende Zeit –, um Phantasiebriefe einer verlorenen Puppe zu verfassen. Dora sagt, er habe jeden einzelnen Satz mit peinlichster Sorgfalt für jedes Detail geschrieben, eine ebenso präzise wie komische und fesselnde Prosa. Mit anderen Worten: Kafkas Prosa. Und drei Wochen lang geht er täglich in den Park und liest dem Mädchen einen Brief vor.
Die Puppe wächst heran, kommt in die Schule, lernt andere Menschen kennen. Immer wieder versichert sie dem Mädchen ihre Liebe, weist jedoch auf gewisse Komplikationen in ihrem Leben hin, die es ihr unmöglich machen, nach Hause zurückzukehren. Schritt für Schritt bereitet Kafka die Kleine auf den Augenblick vor, da die Puppe für immer aus ihrem Leben verschwinden wird. »43. Fortsetzung folgt