Mörder ohne Gesicht
Verbrechen Eine Gewaltserie erschüttert Südschweden. Alles erinnert an Mankells berühmte Krimireihe um Kommissar Wallander. Doch diesmal ist es blutige Realität. Es gibt 18 Morde, nicht einen Täter, dafür aber den Vorwurf: Die Einwanderungspolitik hat ver
Kurt Wallander hätte sie längst zur Strecke gebracht. Natürlich hätte er das. Er wäre schnell die 60 Kilometer über die E65 nach Malmö hinübergefahren. Dorthin, wo seine Karriere als Streifenpolizist begann; nach Ystad kam er ja erst später. In Malmö also wäre er tief ins Milieu eingedrungen, dem Tod wieder ein paar Mal von der Schippe gesprungen und hätte dabei so ungesund ausgesehen wie immer. Aber am Ende hätte er sie gekriegt. Alle. Wenn, ja wenn es diesen Wahnsinns-Kommissar Kurt Wallander wirklich gegeben hätte und er keine Erfindung des 2015 verstorbenen Krimi-Autors Henning Mankell gewesen wäre. So aber ist der Horror in Schonen, jener im Sommer so reizvollen und im Winter so trostlosen Gegend Südschwedens, noch immer nicht vorbei.
Der junge Mann, den sie am Samstagabend im Problemviertel Seved erschossen auf offener Straße gefunden haben, ist Mordopfer Nummer 18. Und das ist keine Fiktion. Das ist blutige Realität.
18 Morde seit Anfang 2016, die alle dieselbe Handschrift tragen; mehrere völlig anders gelagerte Tötungsdelikte sind da noch gar nicht mitgerechnet. Die Polizei von Malmö, einer Stadt mit rund 340000 Einwohnern, steht vor einem Rätsel. Zum Vergleich: In Augsburg mit seinen knapp 300000 Bewohnern hat die Polizei im Jahr 2016 in drei Fällen wegen vollendeter Tötungsdelikte ermittelt, Mord war nicht darunter. Bei allen ging es um fahrlässige Tötung – und alle wurden aufgeklärt.
Das gilt eben nicht für die Blutserie in Malmö. Genauer gesagt: für keinen einzigen der 18 so ähnlichen Fälle. Die Ermittler gehen zwar davon aus, dass sie es in erster Linie mit Machtkämpfen in kriminellen Milieus zu tun haben. Und dass bei einem Großteil der Verbrechen ein Migrationshintergrund eine Rolle spielt, weshalb das Land aufs Neue eine aufgeregte Debatte über die Asyl- und Zuwanderungspolitik führt. Aber der oder die Täter haben eben immer noch kein Gesicht.
Genau so heißt Mankells erster Roman der zwölf Bände umfassenden Wallander-Reihe: Mörder ohne Gesicht. Es ist fast schon eine zynische Parallele, dass es auch darin um Morde geht, die von Ausländern begangen werden. Kommissar Wallander lässt kein gutes Haar an der schwedischen Einwanderungspolitik. Er beklagt die „gleichgültige und nachlässige Haltung“gegenüber der Tatsache, „dass wer auch immer, aus welchen Motiven auch immer, ohne Probleme über die schwedische Grenze kommen kann“. Und die Polizei müsse alles ausbaden. Mankell veröffentlichte den Krimi 1991 in seiner Heimat. Wie aktuell er nun wieder ist … Wenngleich die Probleme, die hinter der realen Mordserie in Malmö zu stecken scheinen, die Schweden schon sehr viel länger beschäftigen als erst seit 2015, dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise.
Die Welt in Schonen, daran versucht sich auch immer Wallander zu klammern, sollte doch eigentlich noch in Ordnung sein. Hier wechseln sich gelbe Rapsfelder mit roten Holzhäuschen ab. Alte Bauernhöfe schmiegen sich an sattgrüne Hügel. Im Westen des Landstrichs, vom dänischen Kopenhagen nur durch die berühmte Öresundbrücke getrennt, liegt Malmö. Die größte Stadt der Gegend war bisher vor allem für den Fußballstar Zlatan Ibrahimovic und den höchsten Wolkenkratzer ganz Skandinaviens bekannt. Doch nun ist das Image angekratzt, und wer weiß, ob die Mordserie jemals so hohe Wellen geschlagen hätte – ohne Donald Trump.
Im Februar ließ der US-Präsident eine Bemerkung fallen, die erst mal kollektives Kopfschütteln auslöste. Er habe da einen Beitrag im USFernsehsender Fox News gesehen, sagte Trump, es gebe große Probleme in Schweden in Bezug auf die Flüchtlingspolitik. Dann fiel der Satz, der tagelang rauf- und runterinterpretiert wurde: „Schaut, was gerade gestern Nacht in Schweden passiert ist.“
Fakt ist: In der Nacht hatte es dort keinen gravierenden Vorfall mit Einwanderern gegeben, auch nicht in den Tagen zuvor. Fox News hatte nur eine Vorschau über einen Dokumentarfilm gezeigt, der sich mit Flüchtlingen und Kriminalität in Schweden beschäftigt. Die Debatte darüber führte nun allerdings dazu, dass sich mehrere Medien dort Lage genauer anschauten. Und zu dem Ergebnis kamen: Schweden, das neben Deutschland die meisten Flüchtlinge ins Land ließ, versinkt deshalb nicht im Chaos. Aber es hat tatsächlich gewaltige Probleme, die die Politik über viele Jahre ignoriert hat. Eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, perspektivlose Einwandererfamilien, zunehmende Gewalt. „Wir haben einen drastischen Anstieg an Schießereien und Morden gehabt“, sagt der Kriminologe Manne Gerell. Und plötzlich war da die Rede von einer beispiellosen Mordserie in Malmö. Dem „Chicago Schwedens“, wie es auf einmal hieß.
Hinter vielen der Taten, so viel scheint klar, verbergen sich Machtkämpfe in kriminellen Netzwerken. Fast alle ereigneten sich mitten auf der Straße. Einige Opfer waren offenbar Unbeteiligte, die zwischen die Fronten gerieten. Die Polizei ist hilflos, sie hat in vielen Fällen noch nicht mal einen Verdächtigen. „Sie kennen die meisten Menschen, die in diesen Netzwerken aktiv sind, aber sie tun sich schwer damit, Beweise zu finden“, sagt Gerell.
Die Probleme häufen sich in mehreren Stadtteilen mit hohem Migrantenanteil. Hier leben Menschen, die teils schon vor Jahrzehnten eingewandert sind, mit ihren Familien. Immer wieder kommt es zu Überfällen und Krawallen. Das zentral gelegene Viertel Möllevången ist so ein Stadtteil – und ein Schauplatz der Mordserie. Am Möllevångstorget geht es geschäftig zu. Im Feinkostladen „Möllans Ost“, der von italienischen Würstchen bis zu feinen Konfitüren viele Spezialitäten bietet, decken sich drei ältere Damen mit Bonbons ein. Angst, dass ihr etwas zustoßen könnte, habe sie nicht, sagt die Verkäuferin. „Es war ja keine zufällige Schießerei.“
An einer Ecke des Platzes erinnern Rosen und ein großes Foto an den 23-Jährigen, der im Februar hier vor einem Thai-Restaurant erschossen wurde. Nach Angaben der Polizei war er in Drogengeschäfte verwickelt gewesen. Genau diese Konflikte im Drogenmilieu seien das Problem, erzählt Marvin, der seit zwei Jahrzehnten auf dem Markt in „Möllan“Auberginen, Gurken und Karotten verkauft. Er sagt: „Die Stadt ist nicht mehr dieselbe.“Vor 40 Jahren kam der kräftig gebaute Mann als Kind aus dem Libanon nach Schweden. Trotzdem meint er heute: „Wir haben zu viele Menschen reingelassen. Wir brauchen strengere Regeln.“
Bei der Stadt sieht man das etwas anders. „Diese Verbrechen sind keine Frage des ethnischen Hintergrunds, sondern der sozialen Klasse“, sagt der Bürgermeister für Umwelt und Sicherheit, Andreas Schönström. „Aber darüber spricht niemand.“Viele der bis zu 200 organisierten Kriminellen in der Stadt hätten zwar ausländische Wurzeln, sagt der Sozialdemokrat. „Aber das ist nicht der Grund. Sondern, dass die Leute in diesen Gegenden unter schlechten Bedingungen leben.“
Mit „diesen Gegenden“meint der Politiker Viertel wie Sofielund in der Nähe von Möllan und Rosendie gård, wo Ende März ein ebenfalls 23-Jähriger erschossen wurde. Das Opfer war den Polizeiangaben zufolge ein Augenzeuge bei einem Mord an einem 16-jährigen Jungen im selben Stadtteil im Januar gewesen. Er war vor seinem Tod bedroht worden. „Wir haben ihm Schutz angeboten, aber er wollte nicht mit uns zusammenarbeiten“, sagt Polizeisprecher Lars Förstell. „Vielleicht, weil er mit Drogen gedealt hat.“Es ist eine der wenigen Taten, nach denen die Polizei Verdächtige festgenommen hat. Zum Abschluss bringen konnte sie die Ermittlungen bisher nicht. „Vor einigen Jahren hat die Polizei die Anführer im Bereich der Organisierten Kriminalität ins Gefängnis gesperrt“, sagt Schönström. „Womit wir es jetzt zu tun haben, ist ein Kampf um Macht in diesen Netzwerken zwischen sehr jungen Männern“, im Durchschnitt 22 Jahre alt. „Sie haben viele Waffen und nutzen sie sehr leicht, um ihre Streitigkeiten auszutragen.“
Die Nähe zu Mitteleuropa ist für die Stadt Segen und Fluch zugleich. „Die meisten Waffen kommen über Malmö nach Schweden“, sagt Forscher Gerell. Und ein Großteil der Menschen. In den Problemvierteln ändere sich jedes Jahr rund ein Viertel der Einwohnerschaft. „Wenn sie auf dem schwedischen Arbeitsmarkt Fuß gefasst und ein Einkommen haben, ziehen sie so schnell sie können um“, sagt Schönström. „Aber die Armut, die sozialen Probleme und die Kriminalität bleiben.“
Das will die Stadt unter anderem mit einem Projekt in Sofielund ändern, einem der 15 schwedischen Viertel, die die Polizei als besondere Problemgegenden ausgemacht hat. Hier sammelt der lokale Fußballklub abends streunende Jungen von der Straße auf, Hausbesitzer werden für verwahrloste Gebäude zur Verantwortung gezogen und eine Putzkolonne auf Fahrrädern räumt täglich das Viertel auf. In einem für Drogengeschäfte berüchtigten Block blinken Kameras von den Häuserwänden. „Wir sehen, dass die Menschen hier wohnen bleiben wollen“, sagt Projektleiter Hjalmar Falck. „Sie fühlen sich wohler.“
Andererseits ist das Gefühl von Unsicherheit gestiegen. „Die Leute leiden darunter, Schüsse vor ihrem Zuhause zu hören“, sagt Forscher Gerell. Anwohnerin Moa McAllister ist kurz nach dem Mord am Möllevångstorget am Tatort vorbeispaziert, als Kriminaltechniker noch Spuren sicherten. Es war, sagt sie der Tageszeitung Sydsvenskan, als sei sie mitten in einer Folge der TVKrimireihe „Die Brücke – Transit in den Tod“gelandet, die in Malmö und Kopenhagen spielt und in bislang drei Staffeln im ZDF lief.
In Henning Mankells „Mörder ohne Gesicht“führt der Doppelmord übrigens zu ausländerfeindlichen Übergriffen, ein Asylbewerberheim geht in Flammen auf. Davon ist das echte Malmö bislang verschont geblieben. (mit dpa)
Dann ließ Donald Trump eine Bemerkung fallen Es ist ein Kampf um Macht. Und sie haben viele Waffen