Paul Auster: Die Brooklyn Revue (44)
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzung von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Kein Problem, sagte ich, und schon zog sie los, ein typisches amerikanisches Mädchen in Paisleyshorts und neonblauen Turnschuhen für hundertfünfzig Dollar. Während sie weg war, sprachen Tom und ich davon, wie angenehm es sei, einmal aus der Stadt heraus zu sein, sogar in einem so düsteren und schmutzigen Laden wie Dot’s, in Gesellschaft von Truckern und Farmern in gelben und roten Baseballmützen mit den Logos von Unternehmen, die Baumaschinen und Industrieanlagen produzierten. Tom redete immer noch wie ein Wasserfall, und ich hörte ihm so fasziniert zu, dass mir Lucy ganz aus dem Sinn geriet. Zu der Zeit konnten wir nicht ahnen (die Tatsachen kamen erst später heraus), dass unsere Kleine das Restaurant durch die Hintertür verlassen hatte und hektisch Münzen und Dollarscheine in den Cola-Automaten draußen schob. Sie nahm mindestens zwanzig Dosen dieses klebrigen, zuckerhaltigen Gebräus und leerte sie eine
nach der anderen in den Benzintank meines einstmals gesunden Oldsmobile Cutlass. Wie konnte sie wissen, dass Zucker für Verbrennungsmotoren ein tödliches Gift war? Wie konnte die Göre nur so verdammt clever sein? Es gelang ihr nicht nur, das jähe und endgültige Ende unserer Fahrt herbeizuführen, sondern dies auch noch in Rekordzeit zu tun. Fünf Minuten, schätze ich, maximal sieben. Auf alle Fälle warteten wir noch auf unser Essen, als sie an den Tisch zurückkam. Jetzt lächelte sie wieder, aber wie hätte ich auf den Grund für ihre plötzliche Zufriedenheit kommen können? Hätte ich überhaupt darüber nachgedacht, wäre mir als Erklärung vielleicht eingefallen, dass sie gut geschissen hatte.
Als wir nach dem Essen wieder ins Auto stiegen, gab der Motor ein Geräusch von sich, wie es in der Geschichte des Automobils noch nicht vernommen wurde. Seit zwanzig Minuten denke ich jetzt schon über dieses Geräusch nach, habe aber noch immer nicht die richtigen Worte gefunden, es zu beschreiben, die eine prägnante Formulierung, die ihm gerecht würde. Heiseres Glucksen? Schluckauf im Pizzikato? Gelächter der Hölle? Entweder bin ich der Aufgabe nicht gewachsen, oder die Sprache ist ein zu schwaches Instrument, zu erfassen, was da in meine Ohren drang und sich anhörte, als käme es aus dem Rachen einer erstickenden Gans oder eines betrunkenen Schimpansen. Schließlich ging das röchelnde Gegacker in einen einzelnen lang gezogenen Ton über, ein lautes, an eine Tuba erinnerndes Dröhnen, das einem Rülpsen nicht unähnlich war. Nicht direkt das Rülpsen eines zufriedenen Biertrinkers, sondern eher das gedehnte, qualvolle Grollen eines verdorbenen Magens, ein Luftstrom, der im tiefsten Bass aus der Kehle eines mit unheilbarem Sodbrennen geschlagenen Mannes drang. Tom stellte den Motor aus und versuchte es noch einmal, aber nun ließ sich nur noch ein schwaches Stöhnen vernehmen. Beim dritten Versuch tat sich gar nichts mehr. Die Symphonie war ausgeklungen, und mein vergifteter Olds hatte einen Herzstillstand erlitten.
„Ich glaub, der Tank ist leer“, sagte Tom.
Das war gewiss die einzig vernünftige Schlussfolgerung, doch als ich mich nach links beugte und mir die Tankanzeige ansah, stellte ich fest, dass der Tank noch etwa zu einem Achtel gefüllt war. Ich zeigte mit dem Finger auf die rote Nadel. „Das hier sagt was anderes“, sagte ich.
Tom hob die Schultern. „Die Anzeige muss kaputt sein. Zum Glück ist da drüben eine Tankstelle.“
Als Tom seine fehlerhafte Diagnose zum Befinden des Autos abgab, drehte ich mich um und sah mir besagte Tankstelle durchs Heckfenster an - ein baufälliger Kasten mit Zapfsäulen davor, und alles sah aus, als sei es seit 1954 nicht mehr gestrichen worden. Dabei geriet ich auch in Blickkontakt mit Lucy. Sie saß direkt hinter Tom, und da ich nicht ahnte, dass sie für diesen Schlamassel verantwortlich war, konnte ich mir die heitere, geradezu übernatürliche Zufriedenheit, die ich in ihrer Miene erblickte, nicht recht erklären. Der Motor hatte soeben sein kakophones Potpourri erklingen lassen, und unter normalen Umständen sollte man annehmen, dass derart groteske Töne sie zu irgendeiner Reaktion veranlasst hätten: Beunruhigung, Belustigung, Aufregung, was auch immer. Aber Lucy hatte sich tief in sich selbst zurückgezogen – schwerelos schwebte sie auf einer Wolke der Gleichgültigkeit, ein reiner Geist, losgelöst von ihrem Körper. Heute weiß ich, sie frohlockte über den Erfolg ihrer Aktion und stattete dem Allmächtigen einen stummen Dank dafür ab, dass er ihr geholfen hatte, ein Wunder zu vollbringen. An jenem Nachmittag mit ihr im Auto war ich jedoch nur verblüfft.
„Bist du noch bei uns, Lucy?“, fragte ich.
Sie sah mich lange an, teilnahmslos, dann nickte sie.
„Nicht aufregen“, sagte ich. „Wir kriegen den Wagen in null Komma nichts wieder hin.“
Damit war ich natürlich auf dem Holzweg. Es wäre verlockend, die nun folgende Komödie in allen Einzelheiten zu schildern, aber ich möchte die Geduld des Lesers nicht mit der Erörterung von Dingen strapazieren, die streng genommen nicht zur Sache gehören. Was das Auto betrifft, zählt allein das Resultat. Ich verzichte daher auf den Kanister mit Superbenzin, den Tom von der Tankstelle herüberholte (da das Zeug nichts nützte), und erwähne mit keinem Wort den Abschleppwagen, der den Cutlass schließlich die paar Meter zu ebenjener Tankstelle brachte (uns blieb ja nichts anderes übrig). Die einzige nennenswerte Tatsache ist die, dass die beiden, die dort arbeiteten (ein VaterSohn-Gespann, bekannt als Al Senior und Al Junior), nicht herauszufinden vermochten, was mit dem Auto nicht stimmte. Junior und Senior waren ungefähr so alt wie Tom und ich, aber während ich schlank und Tom beleibt war, verhielt es sich bei den Körpern des jungen beziehungsweise des alten Al gerade umgekehrt: Der Sohn war dünn, der Vater fett.
Nachdem er den Motor minutenlang untersucht und nichts gefunden hatte, schlug Al Junior die Haube zu. „Ich werde das Ding auseinander nehmen müssen“, sagte er. „So schlimm?“, antwortete ich. „Das will ich nicht sagen. Aber in Ordnung ist es jedenfalls nicht. Nein, ganz bestimmt nicht.“
„Wie lange werden Sie für die Reparatur brauchen?“
„Kommt drauf an. Vielleicht einen Tag, vielleicht eine Woche. Als Erstes muss ich der Sache auf den Grund gehen. Ist es was Einfaches, geht’s schnell. Aber wenn wir beim Händler Ersatzteile bestellen müssen, könnte es sich eine Weile hinziehen.“
Das schien mir eine faire und ehrliche Einschätzung, und da ich, was Autos betraf, ein absoluter Laie war, fiel mir keine andere Lösung ein, als ihm den Auftrag zu erteilen - egal wie lange es dauern mochte. Tom, auch er kein Kfz-Mechaniker, unterstützte diese Vorgehensweise.