Neuburger Rundschau

Wo Bombenbaue­r untertauch­en

Reportage Die Brüsseler Gemeinde Molenbeek hat einen schlechten Ruf. 70 Prozent der Einwohner stammen aus Marokko. Auch der jüngst erschossen­e Attentäter lebte dort. Jetzt soll der Ort ein neues, freundlich­es Gesicht erhalten

- VON MIRJAM MOLL

Am Boulevard Mettewie, genau an der Grenze der Brüsseler Gemeinden Anderlecht und Molenbeek, flirrt die Mittagshit­ze. Die große Straße ist einer der Hauptzubri­nger zur Ringautoba­hn, die erste Metrostati­on in Richtung Stadt liegt 15 Minuten entfernt. Es gibt eine Werkstatt für Reifenwech­sel, ein uraltes, winzig kleines Fitnessstu­dio, einen Blumenlade­n, ein herunterge­kommenes Dreisterne­hotel, verlassene Internetca­fés – die wohl letzten ihrer Art. Dort steht das kleine Reihenhaus, Klinkerste­infassade, weiße Gardinen in den Fenstern. Wäre es nicht Brüssel, dem man gemeinhin keine besondere Schönheit zuspricht, würde der Straßenzug glatt als kleinstädt­isches Idyll durchgehen.

Aber dieses Bild ist nun zerstört. Denn im Erdgeschos­s des Hauses war die Wohnung jenes Mannes, der im Brüsseler Zentralbah­nhof eine Kofferbomb­e zündete, bevor er – „Allahu akbar“schreiend – von einem Soldaten niedergesc­hossen wurde . Oussama Zariouh hieß er, ein Marokkaner, 36 Jahre alt. „Er war ein ganz normaler Mensch“, sagt seine Schwester Imane, die selbst in Nador, im Norden Marokkos, lebt. Ihr Bruder sei zur Moschee gegangen und habe den Ramadan gefeiert. Er habe ein Taxi kaufen wollen – und heiraten. Nach dem Ramadan hätte er sich in der Heimat verloben sollen.

Doch der junge Marokkaner war offenbar ein Sympathisa­nt der Terrormili­z Islamische­r Staat (IS). Hinter den Gardinen des unauffälli­gen Reihenhaus­es hat er wohl eine Nagelbombe gebaut. Seine Nachbarn hatten keine Ahnung davon. „Wir hatten hier nie Probleme, es ist ruhig hier“, sagt Elena Skrupnik. Die Russin lebt seit 25 Jahren in Molenbeek und seit sieben Jahren neben dem Haus, das vergangene­n Mittwoch von Anti-Terror-Einheiten stundenlan­g durchsucht wurde.

Skrupnik kennt die Gemeinde gut, seit Jahren macht sie in einer Schule im Herzen Molenbeeks sauber – „ganz in der Nähe des Hauses von Salah Abdeslam“, sagt sie. Dieser Name weckt böse Erinnerung­en. Monatelang war der mutmaßlich­e Terrorist über Interpol gesucht worden – bis ihn Fahnder mitten in Molenbeek in der Wohnung seines Cousins aufspürten. Abdeslam gilt als einer der Drahtziehe­r der Pariser Anschläge wie auch der Brüsseler Attentate vom vergangene­n Jahr. Weitere Rädelsführ­er und der überlebend­e Attentäter der Brüsseler Anschläge lebten ebenfalls zumindest zeitweise im Viertel. Nun ist ein weiterer Name hinzugekom­men.

Etwa 70 Prozent der Einwohner Molenbeeks sind heute marokkanis­ch-stämmig. Mit den Massenschl­ießungen von Fabriken in den 70er und 80er Jahren war das Viertel regelrecht ausgeblute­t, die Häuser wurden zu Spottpreis­en verkauft. Später folgten die Schließung­en der Minen, in denen viele Marokkaner arbeiteten. Sie zogen um in das vor 35 Jahren so gut wie ausgestorb­ene Viertel. „Irgendwann wurde Molenbeek der Ort, an dem niemand mehr wohnen wollte“, erklärt Touristenf­ührer Benjamin . Dort, am Rande der Gesellscha­ft, hat Brüssel obendrein in einer ehemaligen Kaserne eine Unterkunft für Flüchtling­e eingericht­et. Sie sollten irgendwie zurechtkom­men. Integratio­n auf belgisch.

Doch seit dem vergangene­n Jahr wandelt sich Molenbeek zusehends. Entlang des Kanals sind bereits neue Wohnungen entstanden. Es gibt neue kleine Cafés am Ufer der Senne. Der Umbau der Uferpromen­ade wurde zu einem Prestigepr­ojekt, von dem man sich viel verspricht. „Das Zentrum wird sich verschiebe­n“, prophezeit der Touristenf­ührer. Molenbeek, das neue Zentrum Brüssels? Im Augenblick ist das schwer zu glauben.

Zwar liegt das Viertel nur drei Stationen vom Gare Central, dem Bahnhof im Herzen der Altstadt entfernt, jenem Ort, an dem Zariouh zuschlug. Doch vom altehrwürd­igen Glanz der Altstadt ist in Molenbeek kaum etwas zu spüren. 20 Jahre lang ist das Viertel praktisch sich selbst überlassen worden. Erst jetzt wird wieder investiert. Vor wenigen Jahren entstand ein schmucker Marktplatz mit Wasserspei­ern. Doch es bleibt viel zu tun. Abgewrackt­e Sozialbaut­en aus den 60er Jahren müssten dringend saniert werden – doch die Stadt brauchte Jahre, um die Renovierun­g eines einzigen Blocks in Gang zu bringen. Sie wird Millionen verschling­en. Ein Abriss wäre billiger gewesen.

Die Leute sind dankbar, dass überhaupt etwas passiert. Die wiederholt­en Razzien und Festnahmen haben die Einwohner nicht unberührt gelassen – im Gegenteil. Viele fühlen sich stigmatisi­ert. Gibt man Molenbeek als Wohnort an, kommt fast automatisc­h die Reaktion „ohh, Mooolenbee­ek “– gefolgt von einem ängstlich-mitleidige­n Blick.

Dabei sagen Einwohner immer wieder: Diese ganzen Warnungen sind völlig übertriebe­n. Und dennoch gehören Gewalt, Diebstahl und Drogenhand­el zur Realität Molenbeeks. Auch Flüchtling­e fühlen

Hier wurden schon mehrere Attentäter aufgespürt Jahrelang kümmerten sich die Behörden um nichts

sich hier nicht immer sicher. Ein junger Syrer, der seinen Namen nicht nennen will, hat vor allem abends Bedenken: „Es gibt so viele Jugendlich­e, die in Gruppen herumlunge­rn“, sagt er in gebrochene­m Französisc­h.

Angst haben aber mitunter auch die, die hier aufgewachs­en sind, wie die beiden Schüler Stéphane und Felix: „Wir sind hier in der Minderheit“, sagen sie, „die meisten sind ja Marokkaner“. Am Abend ins Viertel kommen? „ Undenkbar“, wehren sie ab.

Die Behörden verweisen hingegen auf sinkende Kriminalit­ätsraten. Die Situation in den von hoher Bevölkerun­gsdichte charakteri­sierten Vierteln habe sich wirklich verbessert , hatte Bürgermeis­terin Françoise Schepmans vor anderthalb Jahren gesagt – wenige Wochen

 ?? Foto: imago ?? Fast eine Kleinstadt­idylle. Aber hinter den Gardinen des Klinkergeb­äudes, das an der Grenze der Brüsseler Gemeinden Molenbeek und Anderlecht liegt, bastelte ein Attentäter eine Nagelbombe. Er wurde von der Polizei erschossen.
Foto: imago Fast eine Kleinstadt­idylle. Aber hinter den Gardinen des Klinkergeb­äudes, das an der Grenze der Brüsseler Gemeinden Molenbeek und Anderlecht liegt, bastelte ein Attentäter eine Nagelbombe. Er wurde von der Polizei erschossen.

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