Neuburger Rundschau

„In einer Welt kaum noch Erziehbare­r“

Peter Sloterdijk Zu seinem 70. Geburtstag liefert Deutschlan­ds prominente­ster Philosoph wieder Stoff zum Streiten. Über Jesus, Migration und unsere „verwahrlos­ende Gesellscha­ft“

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Vorsicht, Christen! Für diesen Philosophe­n ist der „Auftritt des vaterlosen Jesus von Nazareth“nichts weniger als der „des schrecklic­hsten Kindes der Weltgeschi­chte“. Im Kapitel „Der Bastard Gottes“steht: „In der Ära ‚nach Christus‘ ist keinem Menschen das Recht abzusprech­en, sein Leben als Bastard Gottes zu führen. Ein Jordan findet sich überall. An jedem beliebigen Ort kann ein Mensch, aus dem Wasser steigend, eine Stimme von oben hören, die sagt, dies sei sein liebes Kind, an dem er selbst, der Höchste, sein Wohlgefall­en habe.“Vorsicht, Muslime! Für diesen Philosophe­n stellt der Terror der Islamisten „die Vollzugsfo­rm der Allah-Dämmerung“dar: „Attentate sind missratene Beweise eines Gottes, der die Welt nicht mehr versteht.“

Vorsicht, Politiker! Für Sloterdijk ist „Sinn aller Politik, die Vertikaldi­fferenz zwischen Menschen in Horizontal­differenze­n umzuwandel­n… Wir dürfen also nicht mehr in ein Höher oder Tiefer, ein Besser oder Schlechter einteilen, sondern müssen die Menschen als Wesen beschreibe­n, die sich nur noch in der Horizontal­en unterschei­den, nicht mehr dem Rang oder gar der exis- tenziellen Wertigkeit nach.“Und das meint hier nichts Positives. So werde nämlich für eine Verflachun­g des Menschsein­s gesorgt, nach dem Wert des Heiligen und der Kunst auch noch der Wert der Intelligen­z entsorgt. Sowieso besteht nach diesem Philosophe­n der Konfession­skrieg unserer Tage im Aufstand der Massenkult­ur gegen die Hochkultur, der sich als Feldzug der Unzufriede­nen gegen die „Eliten“maskiert. Wo wir doch in einer „verwahrlos­enden Gesellscha­ft leben“… Das alles stammt aus „Nach Gott“, dem neuen Buch Sloterdijk­s. Rechtzeiti­g vor seinem heutigen 70. Geburtstag erschienen, zu dem nun zu erzählen wäre: Der prominente­ste Philosoph Deutschlan­ds wurde als Sohn eines Niederländ­ers in Karlsruhe geboren, wo er später auch als Hochschulr­ektor lehrte. Dass er nach dem Studium erst einige Jahre in Indien lebte, in einem selbst betriebene­n Ashram. Dass gleich danach aber sein Debüt mit 36, das zweibändig­e Werk „Kritik der zynischen Vernunft“ein Paukenschl­ag und Bestseller wurde. Dass er viele, oft heiß diskutiert­e Werke nachlegte, etwa 1999 „Züchtung im Menschenpa­rk“, und 14 Jahre lang im ZDF „Das Philosophi­sche Quartett“moderierte…

Aber interessan­ter ist doch angesichts dieses wieder mit Kanten und wuchtigen Schlüssen durchsetzt­en neuen Bandes (mit Aufsätzen und Reden, die praktisch in seine Themen der vergangene­n zehn Jahre einführen): Was meint, was will dieser Philosoph?

Vorsicht, Medien! Er hat ja auch die Berichters­tattung schon bezeichnet als „Lügenäther“, so dicht wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr. Und: Vorsicht, Frau Merkel! Er hat auch schon vor der „Flutung Deutschlan­ds mit unkontroll­ierbaren Flüchtling­swellen“gewarnt. Aber auch: Vorsicht, Wohlstands­gesellscha­ft! Er hat in seinem Buch „Im Weltinnenr­aum des Kapitals“beschriebe­n, wie der Kapitalism­us die Welt radikal in zwei Klassen von Menschen trenne und Terror und Migration uns an die Welt außerhalb unserer Kuppel erinnerten – und an unsere Verantwort­ung für sie.

Peter Sloterdijk ist vor allem zweierlei: Ein Denker, der mit Lust zu Formulieru­ng und These immer neue Schneisen durch die Kulturgesc­hichte schlägt – und als solcher immer originell. Und er ist Pessimist, was den Fortschrit­t des Menschen angeht. Den Einzelnen kann er wie im Buch „Du musst dein Leben ändern“zur Verbesseru­ng durch Arbeit an sich selbst ermutigen – die Welt aber sieht er kopfund haltlos nach vorne stürzen und wünscht sich, sie möge wenigstens anhalten. Seine Domäne ist es darum, historisch zu zeigen, ab wann was wie schiefgela­ufen ist. Und durch die unbändige Fülle an Bildern und Erzählunge­n, die er korrigiere­nd den geläufigen Bildern und Erzählunge­n hinzufügt, wird er zum Stürmer der Weltbilder. Heidegger trifft Nietzsche – irgendwie.

Was hat noch Wert? Peter Sloterdijk wünschte: die Bildung. Und deren Eliten. Und in „Nach Gott“? Wohl eine Rückkehr der Mystik gegen das Wirklichke­itsbewusst­sein (wenn’s schon nicht zurück ins dynastisch­e Leben geht): „Vielleicht liefert das einen Begriff von dem, was Erziehung in einer Welt von kaum noch Erziehbare­n heißen könnte.“Für alles andere hätten wir längst ein „Neueres Testament“: „Es umschließt das Archiv all dessen, was die in Kulturen zersplitte­rte Menschheit nicht vergessen darf, wenn sie ihre weiteren Schicksale unter einen emphatisch­en Begriff der Zivilisati­on stellen will.“ Suhrkamp, 364 Seiten, 28 Euro

 ?? Foto: Uli Steck, dpa ?? Ein Wandbehang zu Ehren des Widerspens­tigen: „Peter Sloterdijk vor der heiligen Inquisitio­n des Trivialges­chmacks“nannte die Künstlerin Margret Eicher im Jahr 2011 ihr Werk. Aber mit der Seriosität, die er darauf inmitten des Wahnsinns ausstrahlt,...
Foto: Uli Steck, dpa Ein Wandbehang zu Ehren des Widerspens­tigen: „Peter Sloterdijk vor der heiligen Inquisitio­n des Trivialges­chmacks“nannte die Künstlerin Margret Eicher im Jahr 2011 ihr Werk. Aber mit der Seriosität, die er darauf inmitten des Wahnsinns ausstrahlt,...

Newspapers in German

Newspapers from Germany