Neuburger Rundschau

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (53)

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Honey schaute ihn über den Tisch hinweg an, und als ich Tränen in ihre Augen treten sah, hatte ich keine Zweifel mehr, dass Stanleys dralle, großherzig­e Tochter in Liebe zu meinem Neffen entflammt war.

Aber was war mit Tom? Ich bemerkte zwar, dass er inzwischen Notiz von ihr nahm, nicht mehr so reserviert und aggressiv mit ihr sprach - aber was hatte das zu bedeuten? Es konnte auf zunehmende­s Interesse hindeuten, aber ebenso gut konnten es einfach seine guten Manieren sein.

Eine kurze Szene vom Ende des Abends. Ich will sie als letztes Beweisstüc­k vorlegen, egal, ob sie die Frage beantworte­t oder nicht.

Als wir mit der Nachspeise fertig waren, lag Lucy bereits oben im Bett; die vier am Tisch verblieben­en Erwachsene­n waren alle leicht angetrunke­n. Stanley schlug eine Runde Poker vor, in aller Freundscha­ft, versteht sich; er mischte die Karten, sprach von seinem neuen

Leben in den Tropen (bei Sonnenunte­rgang am weißen Strand unter einer Palme sitzen, einen Rumcocktai­l in der einen Hand, eine Montecrist­o in der anderen, und dem Auf und Ab der Brandung zuschauen) und zeigte uns beim Poker, was eine Harke ist: Er gewann drei Viertel aller Spiele, die wir machten. Was hätte ich nach der Abreibung, die er mir am Nachmittag beim Tischtenni­s verpasst hatte, auch anderes erwarten können? Der Mann schien in jedem Fach zu glänzen, und Tom und Honey lachten über ihre Ungeschick­theit und setzten immer verrückter­e Beträge, während Stanley uns ein ums andere Mal ausmanövri­erte. Ihr Lachen hatte für mich etwas Komplizenh­aftes, und während ich die beiden jungen Leute hinter meinen Karten versteckt beobachtet­e, nahm ich mir bewusst vor, nicht darin einzustimm­en. Als das Spiel zu Ende ging, sagte Tom etwas, das mich überrascht­e. „Fahr nicht nach Brattlebor­o zurück“, sagte er zu Honey. „Wir haben schon nach Mitternach­t, und du hast zu viel getrunken.“

Einfach gute Manieren - oder ein raffiniert­er Trick, sie ins Bett zu locken?

„Ich finde den Weg mit geschlosse­nen Augen“, antwortete Honey. „Mach dir um mich mal keine Sorgen, Kleiner.“

Darauf erklärte sie, sie müsse am nächsten Morgen besonders früh aufstehen (Elternspre­chtag oder etwas Ähnliches), aber mir entging nicht, dass Toms Aufmerksam­keit sie gerührt hatte, oder jedenfalls bildete ich mir das ein. Dann bekam jeder von ihr einen Kuss zum Abschied. Erst ihr Vater, dann ich einen leichten Tupfer auf die Wange und als Letzter Tom. Und er bekam nicht nur einen Kuss auf die Lippen, sondern wurde auch noch in die Arme genommen - und zwar ausgiebig und deutlich länger, als man in so einer Situation erwarten konnte.

„Gute Nacht zusammen“, sagte Honey, ging zur Tür und winkte noch einmal. „Bis morgen.“

Am nächsten Tag kommt sie schon um vier und bringt fünf Hummer, drei Flaschen Champagner und zwei verschiede­ne Nachspeise­n mit. Wieder bereitet unsere außerorden­tlich talentiert­e Köchin uns ein Festmahl zu, und da sich nun auch Lucy am Gespräch beteiligt, bestreiten Grundschul­lehrerin und Grundschül­erin einen großen Teil der Konversati­on während des Essens, indem sie einander die Titel ihrer Lieblingsb­ücher aufzählen. Al Junior und Al Senior haben sich noch nicht mit meinem Auto blicken lassen, ich verkünde aber trotzdem, dass der Olds repariert sei und uns morgen wieder zur Verfügung stehe. Angesichts der angeregten Gespräche am Tisch verschweig­e ich die Ursache unserer Panne, um nicht durch Erwähnung einer so unerfreuli­chen Sache einen Misston in die Stimmung zu bringen. Tom weiß inzwischen Bescheid, aber auch er möchte lieber nichts von dem bösen Streich erzählen, den man uns gespielt hat. Honey und Lucy brechen ihre Hummer auf und singen dazu alberne Lieder, und warum sollte man ihnen mit einer deprimiere­nden Schilderun­g von Klassenres­sentiments und provinziel­len Animosität­en die gute Laune verderben?

Als ich Lucy nach oben ins Bett bringe, merke ich, dass ich zu erschöpft bin, um den zweiten Abend hintereina­nder lang aufzubleib­en und mit den anderen ein Glas Wein nach dem andern zu kippen. Die Chowders vertragen beide eine ganze Menge, und Tom mit seiner massigen Figur und seinem gewaltigen Durst kann Glas für Glas mit ihnen mithalten, während ich als ausgemerge­lter ehemaliger Krebspatie­nt nur ein kleines Fassungsve­rmögen besitze und fürchten muss, am nächsten Morgen mit einem Kater aufzuwache­n.

Ich setze mich zu Lucy auf die Bettkante und lese ihr aus Zane Greys Roman vor, bis sie die Augen schließt und einschläft. Als ich nach nebenan auf mein Zimmer gehe, dringt aus dem Speiseraum unten Lachen an mein Ohr. Stanley sagt, er sei „vollkommen erledigt“, und dann bemerkt Honey etwas über „das Charlie-Chaplin-Zimmer“und fügt hinzu: „Vielleicht ist das gar keine schlechte Idee.“Ich kann nur vermuten, worüber sie reden, aber eine Möglichkei­t wäre die: Stanley will zu Bett gehen, und Honey hat zu viel getrunken, um noch nach Hause fahren zu können, und will die Nacht im Gasthof verbringen. Wenn ich nicht irre, liegt das Charlie-Chaplin-Zimmer unmittelba­r neben dem von Tom.

Ich krieche ins Bett und fange mit der Lektüre von Italo Svevos Ein Mann wird älter an. Das ist mein zweiter Svevo-Roman in weniger als zwei Wochen, aber Zenos Gewissen hat einen so starken Eindruck auf mich gemacht, dass ich beschlosse­n habe, alles von diesem Autor zu lesen, was ich in die Finger bekommen kann. Der italienisc­he Originalti­tel lautet Senilità, genau das richtige Buch für einen alten Knacker wie mich. Ein älterer Mann und seine junge Geliebte. Die Leiden der Liebe. Vereitelte Hoffnungen. Immer nach einem oder zwei Absätzen lege ich eine Pause ein, denke an Marina Gonzalez und quäle mich mit der Vorstellun­g, dass ich sie nie mehr wiedersehe­n werde. Ich würde jetzt gern masturbier­en, widerstehe aber dem Drang, da die rostigen Sprungfede­rn mich verraten würden. Immerhin schiebe ich gelegentli­ch eine Hand unter die Decke und fühle nach meinem Schwanz. Nur um mich zu vergewisse­rn, dass er noch da ist, um festzustel­len, dass mein alter Freund noch bei mir ist.

Eine halbe Stunde später höre ich Schritte die Treppe hinaufkomm­en. Zwei Paar Beine, zwei Flüstersti­mmen: Tom und Honey. Sie gehen durch den Flur auf mein Zimmer zu, bleiben stehen. Ich spitze die Ohren, um wenigstens etwas von ihrem Gespräch zu erlauschen, aber sie reden so leise, dass nichts zu verstehen ist. Schließlic­h höre ich Tom „Gute Nacht“sagen, und gleich darauf geht die Tür des Charlie-ChaplinZim­mers auf und wieder zu. Drei Sekunden später das Gleiche mit der Tür des Buster-Keaton-Zimmers.

 ??  ?? Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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