Realitätsflucht im Gewand
Der abendliche Wind trägt das „Vivat hoch!“von der Oberen Altstadt hinunter zum Grantlereck. „Jaja. Vivat hoch! Ihr Möchtegernfürsten!“Einsam und verlassen steht ein altersloses Männchen auf dem Grantlerstein am Bücherturm. Die Parkplätze um ihn herum sind voll, aber die Plätze leer. Im Zorn verleiht er seiner untersetzten Figur Größe: „Alle zwei Jahre das gleiche Theater. Zillen, anstoßen. Umzug, anstoßen. Vivat hoch, anstoßen. Steckenreitergehopse – und jetzt seid glücklich!“Seine Backen blähen sich auf und er ruft gegen die entfernten Stimmen an: „Ist ja kein Wunder, dass ihr euch in die Renaissance zurücksehnt! Sieht man ja allein an den bayerischen Wahlergebnissen! Einen mächtigen Alleinherrscher, das ist es, was ihr euch wünscht. Und weil nicht einmal Horst und CSU den Status des Sonnenkönigs erreichen, spielt ihr im Kleinen nach, was es heißt, unterwürfig zu sein.“
Gut, sagt er, in Neuburg werde mal schnell alles ausgeblendet, was die Renaissance ausgemacht hat, zumindest beim landläufigen Volk. „Ein Krieg hier, eine Räuberpistole da. Kirchliche Unterdrückung. Adelsdiktatur. Heisahopsassa – das 16. Jahrhundert war ein Fest!“Dann murmelt er etwas von „nostalgischer Schwachsinn“in seinem schmalen Oberlippenbart. „Aber ihr seht es ja selbst, bevor ihr das Fest überhaupt betreten könnt, dass sich die Realität nicht einfach durch den Hinterausgang schicken lässt. Damals nicht, heute nicht. Die Flughafenkontrollen am Wegezoll zeigen ja, welchen Aufwand man betreiben muss, um ein bisschen Realitätsflucht über zwei Wochenenden zu betreiben.“Plötzlich schiebt sich ein Vollbartträger mit Langspieß am Bücherturm vorbei: „Warst du eigentlich schon mal oben?“, fragt er. Der Grantler springt vom Stein und rennt weg.