Vom Feierparadies zum Vorzeigeviertel
Geschichte Einst wurden hier Knödel geformt, dann tobte im „Kunstpark Ost“das Nachtleben. Nun entsteht auf dem ehemaligen Party-Areal am Münchner Ostbahnhof ein neues Stadtquartier
Der orange Globus ist noch da. Von Weitem schon kann man die Plexiglas-Kugel über den Münchner Dächern schweben sehen, wenn man sich dem Ostbahnhof nähert. Lange Zeit war sie Orientierungspunkt für Nachtschwärmer. Heute erinnert der orange Ball eher an die Vergangenheit eines Viertels, das einer ganzen Generation als Feiermeile „Kunstpark Ost“bekannt war. Vom Hochhaus, auf dem er angebracht ist, ragt derzeit nur mehr ein Skelett in den Himmel. Auch nebenan rollen die Bagger: Das Gelände rund um den ehemaligen Kunstpark bekommt ein völlig neues Gesicht. Wo gestern getanzt wurde, soll morgen gewohnt, gearbeitet und gelebt werden.
„Werksviertel“heißt das Areal, das hinter dem Ostbahnhof entsteht. Insgesamt neun Eigentümer sind an dem Projekt beteiligt, darunter die Stadt München selbst. Geplant ist ein ganz neues Stadtviertel mit einer Fläche von gut 39 Hektar. 1200 neue Wohnungen für bis zu 3000 Menschen sollen hier entstehen, dazu noch etwa 7000 Arbeitsplätze, Hotels, Läden, Kitas und eine Grundschule.
Bekannt wurde das Gelände ab 1996 als „Kunstpark Ost“. Kulturmacher Wolfgang Nöth, einst Mitbetreiber der Diskothek „Ostwerk“in Augsburg, errichtete auf 90000 Quadratmetern eine Feiermeile, auf der sich Menschen aus der ganzen Region zum Tanzen trafen, aber auch Künstler mit ihren Ateliers unterkamen. Die Klubs „Babylon“, „Ultraschall“oder „Milchbar“machten sich bald bis weit über die Münchner Stadttore hinaus einen Namen. 2003 wechselten die Betreiber, die Nachtschwärmer feierten von nun an entweder in der „Kultfabrik“oder in den benachbarten „Optimolwerken“.
Jahre zuvor wurde am selben Ort geschält und gestampft: Die Firma Pfanni verarbeitete seit 1949 auf dem Gelände zentnerweise Kartoffeln zu Püree, Knödeln und mehr. Manche Innovation der deutschen Nachkriegsküche fand hier ihren Ursprung. Mitte der Neunzigerjahre zog die Firma Pfanni nach Mecklenburg-Vorpommern um; das Gelände blieb im Familienbesitz. Pfanni-Erbe Werner Eckart ist heute maßgeblich an der Umgestaltung des Werksviertels beteiligt. Sein großes Anliegen ist es, dass dessen Industriegeschichte sicht- und spürbar bleibt.
Am „Werk 3“lässt sich das gut erkennen. Das Werk wurde modernisiert und beherbergt heute Künstlerateliers und Büros, die kantige Fabrikhallenoptik mit breiten Fensterfronten aber hat Eigentümer Eckart bewusst erhalten. Auch einen persönlichen Wunsch hat er sich erfüllt: Auf dem Dach wird eine Almwiese angelegt, hier sollen bald Schafe weiden.
Mitte 2016 ging das „Werk 3“in Betrieb. Auch Graffiti-Künstler Mathias Köhler alias Loomit hat ein Atelier bezogen. Er arbeitet seit 20 Jahren auf dem Gelände und erlebt dessen Wandel hautnah mit. Und er ist durchaus angetan von dem Konzept. „Das Besondere an diesem Areal hier ist: Egal, was die Leute hier machen, sie brennen für etwas“, sagt Köhler. Diese Leidenschaft sieht er auch bei Werner Eckart. Auch die meisten Anwohner freuen sich, dass die lauten Feierbetriebe Büros und Wohnungen weichen.
Trotzdem gibt es auch einige, die sich sorgen, ob ihnen ihr Freiraum auf dem einstigen Industriegelände erhalten bleiben wird. „Das ist einer der letzten anarchischen Orte in München“, meint die Künstlerin Ruth Effer, die ihr Atelier im alten Werk 9 hat – noch. Sie hofft, noch möglichst lange bleiben zu können, bevor auch hier die Erneuerung einsetzt. Für die Künstler und Handwerker auf dem Areal sollen neue Werkstätten geschaffen werden. Doch mancher ist zwiegespalten ob dieser Aussicht. „So einen Spirit, wie er hier gewachsen ist, kann man nicht planen“, gibt etwa Stefan Müller aus der Werkbox zu bedenken.
Für Mathias Köhler sind der Schlüssel zu einer kreativen Atmosphäre die Menschen, die den Ort mit Leben füllen. „Es ist wichtig, die alten zu halten, aber frisches Blut wirkt auch inspirierend“, sagt er. Seine neuen Nachbarn im Werk 3 sind nicht nur Künstler, sondern auch eine Kreativabteilung der Allianz oder die Event-Agentur Avantgarde. Diese Mietermischung