Wie Raufen fair geht
Aggressionen Es ist gar nicht so leicht mit Wut und Provokation umzugehen. Vor allem Jungs tun sich damit schwer. Aber auch die Mädchen hauen zu. Wie Kinder lernen, fair Dampf abzulassen
Auf dem Pausenhof wird gehüpft, gerannt, geplaudert, es wird gegessen und dann Fangus gespielt. Es werden Witze erzählt und es wird gelacht. Auf dem Pausenhof wird aber auch gerempelt, geknufft, gestoßen, es wird provoziert und dann zugehauen. Es fallen böse Worte und dann wird oft geweint.
Auch die Kontrolle von Gefühlen muss gelernt werden. Wie gehe ich mit Provokationen um? Was tun, wenn schreckliche Wut in mir aufsteigt? Dem einen brennen regelmäßig die Sicherungen durch, der andere hat sich besser im Griff. Der eine schlägt nur einmal zu, weil ihm was stinkt, der andere tut es immer wieder, weil der Frust groß ist, ihm grundsätzlich keine andere Lösung einfällt. Das ist im Kindergarten so, an Schulen – und mancher Erwachsene hat es auch nie gelernt, seinen Ärger zu kanalisieren. Aggressionen gehören zum menschlichen Dasein. „Nur sind sie vollkommen tabuisiert“, sagt etwa der dänische Familienpädagoge Jesper Juul, der ein ganzes Buch über Aggressionen und wie man mit ihnen umgeht geschrieben hat. Wer laut schreit, um sich schlägt und andauernd provoziert, wird in unserer Gesellschaft schnell zum Außenseiter.
Michael Horndasch, 47, ist Profi, was den Umgang mit kindlichen Aggression angeht. Wer den Jugendsozialarbeiter in seinem Büro an Augsburgs größter Grundschule im Stadtteil Kriegshaber besucht, kommt zuerst an einem kleinen Billardtisch vorbei. „Ein wichtiges Arbeitsgerät für mich“, sagt er. „Wenn sich immer die gleichen zwei in die Haare kriegen, werden sie zu einem Billardspiel bei mir eingeladen.“Dann gehe es darum, Opfer und Täter positive Erlebnisse zu verschaffen, erklärt Horndasch. Wenn sie miteinander Spaß haben und lachen – „und auch noch gegen mich gewinnen“–, können sie auf einer anderen Grundlage neu aufbauen. Dann sind diese klassischen Pausenhofstreitigkeiten – zumindest zwischen diesen beiden Kampfhähnen – oft eine einmalige Sache. Ja, Kampfhähne. Meist sind es die Jungs, die ihre Gefühle, ihren Stolz oder ihre Wut nicht unter Kontrolle kriegen, ihren Stellenwert erobern oder behaupten müssen. 75 Prozent Jungs, 25 Prozent Mädchen, ja, die schlagen auch zu. Zuweilen auch Jungs.
Meist seien es ganz normale Reibereien, die habe es immer geben und werde es immer geben, sagt Horndasch. Da erinnere er sich noch gut an seine eigene Schulzeit – wenngleich sich die Zahl der Kinder erhöht habe, die therapeutische Unterstützung benötigen. Das habe aber viele andere gravierende Hintergründe, die nichts mit den alltäglichen Rangeleien an Grundschulen zu tun hätten. Die richtige Hilfe für diese Kinder zu finden, sei seine eigentliche Aufgabe. „Ganz normale Pausenauseinandersetzungen landen nicht bei mir“, sagt Horndasch. „Solche Fälle gehen die Pausenaufsicht an oder die Streitschlichter an unserer Schule.“Das sind ausgebildete Schüler, die eingreifen, wenn Mitschüler sich in die Haare kriegen.
Es gebe aber auch Situationen, da können zwei einfach nicht miteinander, geraten immer wieder aneinander. „Dann kann es schon mal sein, dass ich mit den beiden rede und sie eben auf eine Partie Billard einlade.“Doch bevor es mit Queue und Kugeln losgeht, wird geredet. Schließlich fühlen sich beide Streithähne ungerecht behandelt. „Es ist immer wichtig, den Kindern Gehör zu schenken und sie ernst nehmen“. Egal, ob Opfer oder Täter – die Definition sei sowieso schwimmend –, beide müssen unkommentiert Luft ablassen können. Viele „Aber-derhat-das-gemacht“-Sätze fallen dann. Man muss Kontrahenten aber auch klar machen, dass eine feste Regel gilt, egal, was passiert: Es wird nicht geschlagen. Klassischer Kinderstreit sei schnell wieder vergessen. Oft sehe man die Streithähne kurze Zeit später wieder miteinander spielen.
Es gibt aber auch jene Kinder, die bei der geringsten Provokation zuschlagen oder zum Raufen anfangen. Da genügt ein Schubser eines Klassenkameraden, ein blöder Spruch, der vielleicht eigentlich lustig gemeint war, und schon brennt die Sicherung durch. „Das sind dann Mädchen und Buben, die ich etwas genauer kennenlerne“, sagt Horndasch und lächelt. Diese Kinder müssen spielerisch lernen, mit Provokationen umzugehen, und üben, nicht sofort aggressiv zu reagieren. Ein langwieriger Prozess. (JaS) ist eine bayernweite präventi ve Maßnahme der Jugendhilfe, die Kin dern und Jugendlichen, sowie deren Eltern, bei Problemen zu Hause, Kon flikten im Freundeskreis oder Stress an der Schule helfen kann. Die Sozial pädagogen helfen Kindern und Ju gendlichen durch Beratung in schwieri Aber der Jugendsozialarbeiter hat in 20 Jahren die Erfahrung gemacht, die meisten kriegen das bis Ende der vierten Klasse hin.
Vielleicht auch deshalb, weil es an der Grundschule Kriegshaber das Projekt „Faires Raufen“gibt. Die Methoden kommen vom Judo und vom Ringen. „Raufen an sich ist nicht verkehrt“, so Horndasch. Aber eben nach festen Regeln. Die „Kontrahenten“müssen sich gegenseitig zum Raufen auffordern. Wenn der andere ablehnt, dann nicht. Wenn der andere einverstanden ist, schütteln sich die Kinder die Hände und dann geht’s los. Wird es einem zu viel, heißt „Stopp“unabdingbar „Stopp“. Einmal in der Woche wird in der Turnhalle der Grundschule fair gerauft. Es gibt Gruppen für alle Altersstufen. Seit gen Situationen und Unterstützung bei Konflikten oder Krisen. Außerdem organisieren sie mit den Schulen Projekte zu z. B. Cybermobbing, Ge walt, Essstörungen oder bieten Gruppenangebote zu Themen wie Sozi alkompetenz oder Konfliktbewälti gung an. Die Beratung ist kostenlos und absolut vertraulich. (pm) 2011 existiert dieses Angebot in Kriegshaber, das auch mit Rollenspielen kombiniert werden kann, bei denen sich die Kinder spielerisch provozieren. Gemeinsam wird erarbeitet, wie man damit umgeht.
Um kurze Leitungen länger zu machen, geht es grundsätzlich darum, Verhaltensmuster zu durchbrechen. Eben nicht gleich zuschlagen als einzige Lösung. Da können auch Wutbälle helfen: drei Bälle mit unterschiedlichen Gesichtern – von freundlich bis stinkwütend. „Anfangs haben wir die den Kindern mit in den Unterricht gegeben. „Das war nicht immer für den Unterricht förderlich“, sagt Horndasch. Bälle sind halt auch ein schönes Spielgerät, aber vor allem sind sie dazu da, geknautscht zu werden, wenn der Ärger aufsteigt. Sie sollen eine ständig greifbare Erinnerung sein: „Ich raste nicht sofort aus.“
Wichtiger Bestandteil von Horndaschs Arbeit sind die Gespräche mit den Eltern. Auch da fallen dann viele „Aber-der-hat-das-gemacht“-Sätze. Doch Horndaschs Ziel ist der Perspektivwechsel, sich in die Situation des anderen zu versetzen:
Eine Partie Billard kann Wunder bewirken Sozialarbeit an Schulen Viele Eltern sehen nicht ein, dass ihr Engelchen keines ist
Das eigene Kind wurde geschlagen, aber hat es vielleicht auch etwas dazu beigetragen? Keine leichten Gespräche. Viele Eltern wollen nicht einsehen, dass ihr Engelchen vielleicht gar keinen Heiligenschein hat. Manche schreiben auch anonyme Briefe, dieses oder jenes Kind solle „in Ketten gelegt“oder aus der Klasse genommen werden. „Von Eltern wird vieles sehr aufgebauscht“, hat Horndasch festgestellt, das habe sich im Vergleich zu früher tatsächlich geändert. Eltern müssten sich aber vor Augen halten, dass ihre Kinder später im Leben auch mit unfairen, ungerechten Situationen umgehen oder mit aggressiven Menschen zurechtkommen müssten.
Jesper Juul rät übrigens zu „fünf Schritten“im Umgang (nicht nur) mit aggressiven Kindern: Achtsamkeit, also versuchen, etwas mehr über den anderen herauszufinden, ohne in die Rolle des erwachsenen Besserwissers zu schlittern. Wirklich Interesse an den Gefühlen der Kinder zu haben und ihnen Neugierde zu schenken. Dem Kind Anerkennung und ihm ein Feedback geben: „Hör zu, ich mag das nicht, tu das nie wieder.“Schlussendlich rät Juul, Aggressionen nicht zu sehr zu thematisieren. Aggressionen sind nur die Symptome. Zeitverschwendung also, darüber zu reden. Die Ursachen müssten geklärt werden.