Beherrscht von Zahlen
Gesellschaft Algorithmen erzeugen Hierarchien, von denen wir nichts wissen. Ein Soziologe erklärt die Folgen
Wir sind in einer fremden Stadt, flanieren. Weil wir in aller Herrgottsfrühe mit dem Billigflieger eingetrudelt sind, verspüren wir am Nachmittag Müdigkeit. Und suchen ein an einem hübschen Platz gelegenes Café, von dem aus wir das Leben in dieser Stadt betrachten können. Wir fummeln das Smartphone aus der Hosentasche, eine App soll weiterhelfen. Sie gibt uns mehrere Namen, einer davon ist klar der Internet-Favorit, hat die besten Bewertungen, führt das Ranking an. Da wollen wir hin, auch wenn es noch 1,6 Kilometer bis zu dem Café sind.
Als wir ankommen, sind wir etwas enttäuscht. Andere Cafés auf dem Weg haben uns mehr beeindruckt. Wir glaubten jedoch der anonymen Masse, die uns mit Quantität übertölpelte. Das Café ist am häufigsten „gerated“, aber wir finden nicht, dass der Kaffee, der Service oder die Sauberkeit sich von ähnlichen Einrichtungen abheben. Wir sind auf die metrische Wertigkeitsordnung hereingefallen. Das ist mehr und mehr typisch für uns Zeitgenossen. Die Vermessung zeitigt gesellschaftliche Entwicklungen. Der Mainstream hat uns aufgesaugt, wir haben uns „hineingelevelt“.
Das „Kompilieren, Kumulieren, und Verknüpfen von personengebundenen Daten“findet ununterbrochen statt, erklärt der Soziologe Steffen Mau, Professor am Berliner Institut für Sozialwissenschaften. Statistische Verfahren werden bei Privatpersonen angewandt, dadurch entsteht eine Art Steckbrief eines individuellen Lebens. Die Technik weiß mehr von uns als wir selbst. Mau nennt sie den „digitalen Schatten“über unserem Dasein. Je größer er ist, desto mehr wird gespeichert, desto mehr Informationen können gesammelt wer- den. Wir sind eine Adresse für Messwerte und daraus resultierende Positionen. Die von Algorithmen ausgewerteten „individualisierten Daten“bilden ein untrügliches Persönlichkeitsporträt ab. Das kann nützlich sein für die Bank, von der wir einen Kredit wollen. Für Versicherungen, die uns einstufen. Für Immobilienhändler und Vermieter, die alles über unsere Liquidität wissen wollen. Für Unternehmen oder Institute, bei denen wir eine Beförderung, ein Stipendium anstreben.
Beispiel Gesundheit: Das SchweiAssemblieren zer Unternehmen Dacadoo hat einen „Health Score“entwickelt, eine Art Gesundheitsindex. Darin zählen Werte von 0 (schlecht) bis 1000 (ausgezeichnet), die per Smartphone für unsere Körperwerte ermittelt werden. Sämtliche körperlichen Aktivitäten werden registriert, gespeichert und bewertet. Zwei Mal am Tag Treppen gestiegen – der Score steigt. Abends zu viel Fettiges verspeist – der Score sinkt. Sex gehabt: der Score steigt leicht wieder an. Nachts schlecht geschlafen – der Score sinkt weiter.
Das sei die „Quantifizierung des Sozialen“, klärt Steffen Mau auf. Unser Leben wird dominiert von „Scores, Rankings, Sternchen und Noten“, wir sind in eine „Numerokratie“geraten. Die „Landnahme“der Algorithmen führt in eine Rangordnung, in der wir hierarchisch positioniert werden. Wir zählen – weil wir uns zählen lassen. Obwohl niemand so richtig weiß, auf welche Weise unsere persönlichen Daten von den Algorithmen zusammengerechnet werden. Das treibt uns laut Mau in eine „Unentrinnbarkeit“, Widerstand ist sinnlos. Die Folgen können fatal sein, der Soziologe warnt vor „Arkanpraktiken“. Das sind Methoden, die etwa die Bewilligung und Höhe eines Kredits bestimmen. In einigen Bundesstaaten der USA bereits auch die Höhe einer Haftstrafe.
Steffen Lau glaubt, dass „die zunehmende Verdatung des Sozialen“einen „Rohstoff“auch jenen liefere, die es mit dem Humanen nicht sonderlich gut meinen. Die neoliberale Leistungsgesellschaft werde weiter auseinandergehen, der „Fitnessplan“werde zur „Statusarbeit“. Kontrolle über das Individuum allerorten und überall.
Suhrkamp, 308 S. 18 €