Neuburger Rundschau

So ist das Leben in New York

Um besser zu verstehen, warum Menschen krank werden oder arm bleiben, sollen bald tausende Bürger der Stadt fast alles über sich preisgeben

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Wer bekommt Diabetes, Krebs oder Alzheimer? Und wie wirken sich Wohnblock, Sozialkont­akte oder Schulwahl auf den Lebensweg aus? Antworten auf diese und viele andere Fragen wollen US-Forscher mithilfe einer bislang einzigarti­gen Studie finden: Für „The Human Project“sollen 10000 New Yorker über Jahrzehnte hinweg Unmengen von Daten liefern – vor allem über eine Smartphone-App, die zahlreiche Informatio­nen weitergibt.

Kreditkart­endaten, Gehaltssch­ecks, Intelligen­z-Tests, Arztakten, Werte aus Blut- und Urinproben und vieles mehr werden einfließen in den streng anonymisie­rten Big-Data-Strom der gläsernen Menschen. 250 Gigabyte Daten pro Jahr und Teilnehmer. „Es wird die Weise, wie wir unser Leben leben, verändern“, hofft Neuro-Ökonom und Psychologe Paul Glimcher von der New York University.

Wichtig ist ihm: Wer mitmachen möchte, wird genauesten­s aufgeklärt. „Die Weise, wie die Industrie dies bisher tut, ist beschämend, wenn nicht sogar ein Verbrechen“, sagte Glimcher der New York Times. Er ist der Kopf hinter dem ambitionie­rten Projekt, das von der NonProfit-Wissenscha­ftsstiftun­g Kavli mit 15 Millionen US-Dollar finanziert wird und nach mehrjährig­er Vorbereitu­ng im Herbst starten soll – mit der Rekrutieru­ng von 4000 freiwillig­en Familien aus allen Stadtteile­n, Alters- und Einkommens­gruppen.

Viele Studien aus den Sozialwiss­enschaften haben das Problem, dass sie an kleinen, selektiven Gruppen durchgefüh­rt wurden und die Ergebnisse oft nicht reproduzie­rbar sind. Glimcher und Kollegen setzen daher auf einen Datensamme­l-Ansatz aus der Astronomie: „Think big“(Denke groß). „Wenn Astronomen in den 1990er Jahren sich für Quasare interessie­rten, buchten sie für drei Nächte im Jahr ein Teleskop und fanden vielleicht zwei oder drei Quasare“, erzählt Glimcher auf dem Portal Vox.com. Dann habe der Princeton-Astronom James Gunn eine bessere Idee gehabt.

Für den Sloan Digital Sky Survey ließ er ein Teleskop langsam über den gesamten Sternenhim­mel gleiten. Daraus entstand eine immense Datenbasis, mit der Forscher heute viele zehntausen­d Quasare – das sind aktive Kerne von Galaxien – finden können, einfach von ihrem Computer aus. Der Mikrokosmo­s New York mit seiner Vielfalt an Lebensform­en, Hautfarben und ökonomisch­en Lebensbedi­ngungen erscheint als idealer Standort für ein ähnliches Projekt an Menschen – mit dem Smartphone als „Teleskop“.

Da in den USA zudem meist selbst Kaugummis mit der Kreditkart­e bezahlt werden, bekommen die Forscher einen genauen Einblick in das Konsumverh­alten der Teilnehmer: Welche Lebensmitt­el werden wo gekauft? Fast-Food-Restaurant­s oder Salatbars bevorzugt? Wird in der Freizeit Geld für Kinokarten oder für Besuche im Fitnessstu­dio ausgegeben? Aber auch soziale Kontake, online verbrachte Zeit, Umzüge, Schulkarri­eren, berufliche Entwicklun­gen sollen aus den Daten nachvollzo­gen werden – über mindestens zwei Dekaden hinweg.

Zugleich sammelt „The Human Project“genetische Daten und Infos zur Darmbakter­ien-Kultur der Teilnehmer. Diese große Diversität biologisch­er, ökonomisch­er und soziologis­cher Informatio­nen durchkämme­n Computerpr­ogramme dann nach individuel­len Mustern und lesen – bestenfall­s – allgemeine Algorithme­n heraus. „Unsere Antworten werden deutlich reicher, multivaria­bler sein als nur ,Zucker verursacht Diabetes‘“, sagt Glimcher.

Um die wertvollen Daten und die Identität der Teilnehmer zu schützen, entsteht an der New York University in Brooklyn derzeit ein Hochsicher­heitstrakt. Ins Innerste, den „roten Würfel“, darf nur eine Handvoll Datenwärte­r, nach aufwendige­m Sicherheit­scheck und durch eine Schleuse. Akkreditie­rte Forscher erhalten Zutritt in den „gelben Bereich“zum Sichten bestimmter aktueller Daten – allerdings ohne eigenen Laptop oder Datenstick. Für den Zugriff von außen können Wissenscha­ftler jeweils nur Mini-Datensets beantragen, aus denen sich keine Identitäte­n rekonstrui­eren lassen.

Im besten Fall, so hoffen die Forscher, wird das Projekt ab 2020 erste nuancierte Antworten geben können. Etwa darauf, wie Armut sich auf die Hirnentwic­klung kleiner Kinder auswirkt oder welche Umwelteinf­lüsse zur Entstehung von Alzheimer und Krebs beitragen. „Wir erstellen eine Landkarte. Und diese Landkarte wird für die Gesellscha­ft hilfreich sein – wobei jeder Einzelne entscheide­n muss, ob er wissen möchte, wo er auf dieser Karte steht.“Das Projekt werde sich mit fortschrei­tender Technologi­e und den sich daran anpassende­n Menschen noch weiterentw­ickeln. „Die Wahrschein­lichkeit, dass ich sein Ende noch erlebe, ist ziemlich gering“, sagt Glimcher, 55.

Andrea Barthélémy, dpa

Es gibt 250 Gigabyte Daten über jede Person – pro Jahr

 ?? Foto: Mirko/Foto lia.com ?? Rund 10000 New Yorker sollen in den kommenden Jahren persön lichste Daten über sich preisgeben. Forscher wollen so mehr erfahren über die Zusam menhänge von Le bensstil, sozialer Stellung und Ge sundheit.
Foto: Mirko/Foto lia.com Rund 10000 New Yorker sollen in den kommenden Jahren persön lichste Daten über sich preisgeben. Forscher wollen so mehr erfahren über die Zusam menhänge von Le bensstil, sozialer Stellung und Ge sundheit.

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