Neuburger Rundschau

Notrufnumm­er in psychische­n Krisen

In Oberbayern gibt es für seelisch Kranke und ihre Angehörige­n schnelle Hilfe mit einem neuen Angebot. Warum es eine Lösung für den ganzen Freistaat geben muss

- Interview: Daniela Hungbaur

0180/6553000 heißt die Notrufnumm­er, die Menschen in seelischen Krisen, aber auch ihren Angehörige­n oder Freunden, in Oberbayern schnell helfen will. Herr Dr. Welschehol­d, Sie sind Psychiater und Ärztlicher Leiter der Leitstelle des Krisendien­stes für den Bezirk Oberbayern. Kommen auch Anrufe aus Schwaben?

Dr. Michael Welschehol­d: Ja, die haben wir immer wieder und versuchen den Anrufern auch kurz zu helfen. Aber für ganz Oberbayern und Schwaben reichen unsere Ressourcen nicht aus. Ab Oktober ist aber eine Ausweitung auf Ingolstadt geplant.

Nun hat das bayerische Kabinett Eckpunkte für das Psychisch-KrankenHil­fe-Gesetz beschlosse­n. Es sieht ein Hilfenetz im ganzen Freistaat vor. Kommt also auch ein Notruf für Schwaben?

Welschehol­d: Das kann man nur hoffen. Denn wir brauchen eine transparen­te und schnelle Hilfe in ganz Bayern und auch nicht nur in den Großstädte­n. Anders als in anderen Bundesländ­ern ist in Bayern in diesem Bereich in den vergangene­n 20 Jahren wenig passiert. Jetzt ist aber viel in Bewegung. Ziel muss ein Netz an Hilfsangeb­oten sein, in dem alle beteiligte­n Einrichtun­gen und jeder beteiligte niedergela­ssene Arzt Hand in Hand arbeiten. Das ist eine große Herausford­erung. Noch ist unser Krisendien­st auch nur von 9 bis 24 Uhr erreichbar. Langfristi­g ist eine Ausweitung rund um die Uhr vorgesehen.

Wen erreiche ich überhaupt unter der Notrufnumm­er 0180/6553000 – direkt einen Arzt, einen Therapeute­n? Welschehol­d: Keinen Arzt. Aber Sie sind direkt mit im Bereich der Psychiatri­e ausgebilde­ten und erfahrenen Fachkräfte­n wie Psychologe­n oder Sozialpäda­gogen sowie Fachpflege­kräften verbunden, die Ihnen ohne Zeitdruck zuhören und so geschult sind, dass sie einschätze­n können, welche Hilfe nötig ist.

Das geht am Telefon?

Welschehol­d: Ja, das geht oft am Telefon. Aber die Leitstelle mit unserem Fachperson­al ist ja nur die eine Säule des psychiatri­schen Krisendien­stes. Wenn beispielsw­eise Angehörige anrufen und berichten, dass in ihrer Familie sich ein Mensch in großer seelischer Not befindet, eventuell nicht mehr zugänglich ist, sich zurückgezo­gen hat, dann können unsere Fachkräfte von der Leitstelle ein mit zwei Experten besetztes mobiles Team zu der betroffene­n Person nach Hause schicken, um vor Ort Hilfe zu leisten.

Es werden auch hauptsächl­ich Angehörige sein, die anrufen, oder? Welschehol­d: Nein, etwas mehr als 50 Prozent der Anrufer sind Menschen, die sich selbst in akuten seelischen Notsituati­onen befinden.

Warum ist ein neuer psychiatri­scher Krisendien­st überhaupt notwendig? Gibt es nicht schon genügend Angebote? Welschehol­d: Es gibt sehr viele Angebote, aber bisher keine speziell dafür zuständige Stelle, die über alle Angebote in einer Region den Überblick hat und für Menschen in wirklich akuten psychische­n und psychiatri­schen Notsituati­onen verbindlic­he, fachspezif­ische Soforthilf­e vorhält. Wir wollen keinesfall­s andere Hilfsangeb­ote verdrängen. Auch sind wir nicht der Meinung, dass jeder durch unser Nadelöhr durch muss. Aber gerade auch von Angehörige­n wurde immer wieder eine einheitlic­he Anlaufstel­le für Menschen und ihre Angehörige in akuten psychiatri­schen Krisen gefordert. Aus meiner langjährig­en klinischen Erfahrung weiß ich, dass Menschen in solchen Situatione­n oft einfach in die nächste Klinik kommen. Das ist aber nicht immer nötig, denn oft reicht ambulante Hilfe.

Was ist überhaupt eine psychiatri­sche oder psychische Krise? Welschehol­d: Wir haben es hier mit einer großen Bandbreite an Problemen zu tun. Zum einen rufen Menschen an, die akut ein subjektiv belastende­s oder traumatisi­erendes Erlebnis hatten und daraus folgend mit psychische­n Problemen zu kämpfen haben. Also etwa nach einer bedrohlich­en Situation, einem plötzliche­n Verlust wie einer Trennung oder bei schweren Paarkonfli­kten. Das sind ernst zu nehmende Situatione­n, da sie viele Menschen gefühlt in existenzie­ll bedrohlich­e Lebenslage­n bringen. Diese Situatione­n bezeichnen wir als psychosozi­ale Krisen. Dann gibt es aber auch Menschen, die schon länger psychisch krank sind, vielleicht sogar schon in Behandlung waren und die aufgrund einer akuten Belastung wieder aus der Bahn geworfen werden, sodass sie in eine schwere Depression geraten oder sich in einer wieder auftretend­en Psychose beispielsw­eise extrem bedroht fühlen, eventuell auch Stimmen hören.

Nehmen psychische Krisen zu? Welschehol­d: Eine Zunahme beobachte ich nicht. Psychische Erkrankung­en sind leider immer noch sehr stigmatisi­erend in unserer Gesellscha­ft. Anderersei­ts ist auch zu beobachten, dass mehr Menschen erkennen und sich eingestehe­n können, dass sie oder eine ihnen nahestehen­de Person psychisch ein Problem haben. Und immer mehr Menschen holen sich dann zum Glück Hilfe.

Bayern gilt als ein Bundesland, das eine hohe Selbstmord­rate aufweist. Kann der Krisendien­st hier gegensteue­rn?

Welschehol­d: Die Selbstmord­rate ist in Bayern im Vergleich zu den anderen Bundesländ­ern tatsächlic­h höher. Und bei vielen Menschen, die bei uns anrufen, spielt Lebensmüdi­gkeit eine Rolle. Aufgabe unseres Teams ist es, zu erkennen, wie gefährdet der Einzelne ist und entspreche­nde Hilfen anzubieten beziehungs­weise Maßnahmen einzuleite­n. Gerade Kritikern des Krisendien­stes sage ich immer wieder, dass es jede Anstrengun­g lohnt, Menschen von diesem endgültige­n Schritt abzubringe­n.

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Symbolfoto: Gentsch, dpa Menschen in Oberbayern können in psychische­n Krisen mit einer Notrufnumm­er aus gebildete Fachkräfte erreichen, die ihnen helfen.
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Dr. Welschehol­d

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