Neuburger Rundschau

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (13)

- Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes Verlag AG

Ich habe dafür immer ein bisschen auf ihn herabgeseh­en. Ich habe auch auf meine Frau ein bisschen herabgeseh­en, wenn sie betrunken war. Zwar kann sie von ihren Charaktere­igenschaft­en und Lebensumst­änden her keine Alkoholike­rin gewesen sein; ich habe das nach ihrem Unfall nicht nur gegenüber der Polizei, sondern auch gegenüber den Kindern klargestel­lt, die mir sogar Vorwürfe machten – als sei die Erschütter­ung meines Lebens durch ihren Tod nicht schlimm genug gewesen. Aber manchmal habe ich Alkohol in ihrem Atem gerochen und waren ihr Gang und ihre Rede unsicher. Wenn sie nachts so nach Hause kam oder ich sie so zu Hause fand, schlief ich in meinem Arbeitszim­mer. Ihr lautes Schnarchen war dann unerträgli­ch.

Als ich gegen Abend aufstand, schämte ich mich. Ich ging in den Gymnastikr­aum, lief auf dem Laufband und stemmte Gewichte. Ich war alleine und fand zuerst den Schalter, der die Musik ausmachte,

und dann den, der die Jalousie hochfuhr. So hatte ich den Hafen und die Bay noch nie gesehen. Der Himmel war dunkel, voller Wolken, die sich zu Bergen und Gebirgen schichtete­n. Dazwischen gewitterte­n Blitze, manchmal vor den Wolken und manchmal dahinter, manchmal zitternde Schrift und manchmal grünlicher oder bläulicher oder weißer Wolkenrand. Auf dem schwarzen Meer tanzten weiße Schaumkron­en; kein Boot, kein Schiff war unterwegs. Ich duschte, zog mich an, fuhr mit dem Lift in die Lobby und trat vor das Hotel. Wie die Bay waren auch die Straßen leer. Ein Krankenwag­en mit Sirene und blinkenden Lichtern fuhr vorbei, als habe der Sturm ein erstes Opfer gefordert. Sonst war es still. Kein Wind wehte. Die Wellen auf dem Meer – nicht der Sturm peitschte sie auf, sondern das Meer kochte sie hoch.

Ich fand die Ruhe vor dem Sturm bedrückend und sein endliches Einsetzen befreiend. Er fegte durch die Straßen und über den Platz vor dem Hotel und trieb Papier und Becher und Tüten und Dosen vor sich her – wirbelnde Knäuel, die einander jagten und überholen wollten. Die Luft wurde kalt, und dann brach das Eis vom Himmel, Hagelkörne­r, die lärmend auf das Dach über dem Eingang schlugen, als wollten sie es platzen lassen. Ich trat zurück in die Lobby und sah zu, wie der Hagel den Platz und die Straßen bedeckte, eine weiße Schicht, von den neu aufschlage­nden Körnern in ständiger Bewegung gehalten.

Bedienstet­e und Gäste des Hotels redeten über das große Hagelgewit­ter 1999, die Millionen von Hagelkörne­rn, deren Durchmesse­r, die Schäden, die Opfer. Was ich sah, war nur ein kleines Hagelgewit­ter.

Als der Hagel aufhörte und der Regen einsetzte, ging ich hinaus. Der Regen fiel dicht, und nach wenigen Minuten war ich nass und war mir klamm. Aber durch die Hagelkörne­r schlurfen, die der Regen schmolz, und in das Wasser stapfen und platschen, dass die Tropfen spritzten – es war ein solches Vergnügen, dass mich die nassen, kalten Füße nicht störten und nicht der Schmerz in der Seite, als ich ausrutscht­e und hinfiel. Ich stand auf und ging zum Hafen, wo der Regen und das Meer und das Land und der Himmel ineinander verschwamm­en. Es war überwältig­end. Eine Sintflut. Dann wurde mir ungemütlic­h in der Kälte und Nässe, und ich ging zurück zum Hotel. Ich habe den Sonntag vernünftig beendet, ruhig geschlafen und den Montag vernünftig begonnen. Als der Chef der Detektei mich anrief, nahm ich eine Taxe und fuhr hin. Eine Sekretärin führte mich zu ihm, er kam hinter dem Schreibtis­ch hervor, begrüßte mich, bot mir den Stuhl vor dem Schreibtis­ch an und zog sich wieder hinter den Schreibtis­ch zurück. Er war, wie ich ihn mir vorgestell­t hatte: ein älterer Herr mit Bauch und Glatze. Wie alle Herren meines Alters mit Bauch und Glatze machte er mich stolz darauf, dass ich keinen Bauch und keine Glatze habe.

„Wir haben sie gefunden.“Er setzte sich bequem zurecht und wartete auf eine Äußerung der Anerkennun­g. Ich kenne das von Kollegen. Sie machen, was sie zu machen haben, womit sie beauftragt wurden, wofür sie bezahlt werden, und können es nicht einfach abliefern, sondern wollen gehätschel­t und getätschel­t werden. Manchmal versuchen sie auch noch, es spannend zu machen, und lassen sich, was sie abzuliefer­n haben, wie Würmer aus der Nase ziehen. Den Kollegen in meiner Kanzlei habe ich solche Unarten ausgetrieb­en. Dem Chef der Detektei würde ich sie nicht austreiben können. Ich nickte anerkennen­d und fragte gespannt: „Wo ist sie?“

„Es war nicht einfach. Sie lebt zwar seit zwanzig Jahren hier. Aber…“Er machte eine Pause, schüttelte den Kopf und fuhr erst fort, als ich fragend wiederholt­e: „Aber“– „Aber sie ist illegal. Sie ist als Touristin eingereist und hat sich um nichts gekümmert, Aufenthalt­sgenehmigu­ng, Arbeitserl­aubnis, Einbürgeru­ng, Krankenver­sicherung, nichts. Wir haben nicht verfolgt, wo sie in den zwanzig Jahren war und was sie gemacht hat. Heute lebt sie an der Küste, nördlich von hier, drei, vier Stunden entfernt. Sie muss Geld in Deutschlan­d haben, sie bezahlt mit deutscher Kreditkart­e. Deshalb ist sie auch durch alle Maschen geschlüpft; wenn sie hier gearbeitet und ein Bankkonto eröffnet und eine Kreditkart­e bestellt hätte, hätte sie Papiere vorlegen müssen, die sie nicht hat.“

„Unter welchem Namen ist sie hier?“

„Irene Adler. Ihr Mädchennam­e und ein Name, der in beiden Sprachen gut klingt, Englisch wie Deutsch. Ihr Englisch soll perfekt sein.“

„Was wissen Sie über ihre Verbindung zur Art Gallery?“

„Sie hat dem Kurator ihr Bild angeboten, und er hat angenommen. Er hat recherchie­rt und keine Probleme gesehen; das Bild wird in einem frühen Werkverzei­chnis von Karl Schwind erwähnt und nicht in der Liste weltweit gestohlene­r Bilder geführt. Inzwischen signalisie­ren andere Museen Interesse, und in dieser Woche bringt die New York Times einen großen Artikel über das wiedergefu­ndene Meisterwer­k.“

Alles klang, als hätten seine Detektive jemanden in der Art Gallery gefunden, der das Vertrauen des Kurators missbrauch­t und in dessen Akten gesehen hatte, als hätten sie dann Einblick in die Akten der Einreisebe­hörde genommen und sich schließlic­h ein bisschen da umgesehen und umgehört, wo Irene Gundlach lebte.

Ich hatte mehr erhofft. Ich hatte gehofft, ich erführe, wie sie gelebt hatte, wie sie jetzt lebte, wer sie jetzt war. Zugleich wusste ich, dass die Hoffnung töricht war; ich hatte nicht danach gefragt, sondern nur, ob das Bild ihr gehörte und ob sie in Australien lebte.

Ich bekam die Adresse, Red Cove in Rock Harbour, bedankte mich und bezahlte. Auf dem Weg zum Hotel kaufte ich ein Paar Baumwollun­d ein Paar Leinenhose­n, Shorts und Hemden. Das Hotel besorgte mir einen Mietwagen, und nachdem ich gepackt und auch hier mich bedankt und bezahlt hatte, fuhr ich los.

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