Frau Müllers privater Golf Krieg
Leben Bei ihrem Sohn ist zu wenig Platz, eine bezahlbare Wohnung findet die Rentnerin nicht. Für ein halbes Jahr landet sie in der Obdachlosenunterkunft, bis die Polizei vor ihrer Tür steht. Jetzt lebt die 77-Jährige in ihrem Golf – aus Protest
Neuburg Es ist nicht leicht, Sonja Müller tagsüber zu finden. Ein Angestellter, der am öffentlichen Neuburger Parkplatz arbeitet, sieht die Frau jeden Tag. Morgens steht sie auf, dann verschwindet sie. Angesprochen habe er sie noch nie. Warum auch? Der Parkplatz sei zwar kein Hotel. Aber die Frau hinterlasse keinen Müll, verhalte sich unauffällig. So unauffällig, dass sie einer Anwohnerin in sieben Wochen nie aufgefallen ist. Der Arbeiter sagt, dass sie vielleicht einkaufen ist.
Tatsächlich. Ein rotglänzender Golf, top in Schuss für sein Alter, mit einem Pfälzer Kennzeichen, hat im Halbschatten des Supermarkts geparkt. In der offenen Fahrertür sitzt jene Frau, von der nur eine Handvoll Menschen weiß, woher sie kommt und warum sie ihre Nächte auf dem Parkplatz verbringt. Sie will Sonja Müller genannt werden, was nicht ihr wirklicher Name ist. Ihre Geschichte stehe für mehr als nur für sie, sagt sie. Deswegen brauche sie keinen Namen. Und auch der Parkplatz soll nicht in der Geschichte auftauchen. Schließlich sei er ihr Rückzugsort.
Wenn sie ihre Geschichte und von den Gründen erzählt, wie sie auf dem Parkplatz gelandet ist, glänzen ihre Augen wie die Motorhaube des Volkswagens – der gleichzeitig ihr Lebensmittelpunkt und Schlafzimmer ist. Sonja Müller ist Rentnerin. Sie hat bis zu ihrer Rente gearbeitet: als Krankenschwester, Hebamme und Co-Therapeutin. Vor zwei Jahren hat die alleinlebende Frau die Entscheidung getroffen, näher am Zuhause ihres Sohnes zu leben, in Neuburg. Sie kündigt ihre Wohnung, packt ihre Habseligkeiten in den Golf und macht sich auf den Weg nach Bayern. Wenig später lebt sie in der Wohnung ihres Sohnes, im Zimmer der Enkelin. Eine Übergangslösung, sagt sie heute. Sie will etwas eigenes finden, ein neues Zuhause und hat dafür klare Vorstellungen: 40 bis 50 Quadratmeter für bis zu 350 Euro. Das gebe ihre „gesicherte Rente“her.
Dann beginnt die Odyssee. Um nicht länger das Zimmer ihrer Enkelin zu besetzen, zieht sie nach neun Monaten in eine Wohngemeinschaft. Sie lebt mit jungen Arbeitern zusammen. Als ihr Vermieter neue Pläne mit der Wohnung hat, wird ihr zum 31. Dezember 2016 gekündigt. Ab diesem Zeitpunkt ist sie eine Wohnungssuchende ohne Dach über dem Kopf, obdachlos trotz gesicherter Rente.
Von einem Tag auf den anderen findet sie sich in der Obdachlosenunterkunft an der Donauwörther Straße wieder – in entsetzlichen Zuständen, sagt Sonja Müller. Sie zeigt Bilder von Toiletten, für die der Titel Bahnhofs-WC ein Kompliment wäre. Warmwasser gibt es nicht. Plötzlich hat Sonja Müller zwei Missionen: eine Wohnung finden und ihren Mitbewohnern helfen. Sie setzt am 1. Februar einen Brief an Oberbürgermeister Bernhard Gmehling auf: „Man muss dieses Elend selbst erlebt haben, um es empfinden zu können“, schreibt sie und bittet um Hilfe. Auf Nachfrage unserer Zeitung erklärt das Ordnungsamt, dass an der Situation gearbeitet werde. Seit Juli gebe es nun Warmwasser.
Doch eine Wohnung hat Sonja Müller trotz Zeitungsinserat nicht gefunden. Die Stadt will ihr helfen, indem ihr die Sachbearbeiter betreutes Wohnen und Übergangszimmer anbieten. Alle Angebote schlägt sie aus. Nicht weil sie Unterstützung fordere, erklärt sie. Ganz im Gegenteil: „Ich will für mich alleine sorgen!“, sagt die 77-Jährige und protestiert damit gegen den Notstand an bezahlbarem Wohnraum. Schließlich ist es ihre Rente, die der Frau zum Verhängnis wird. Weil sie für sich sorgen könnte, gilt sie rechtlich nicht als obdachlos, sondern wohnungssuchend. Das Ordnungsamt erklärt, dass der Wohnraum dringend für Notfälle bereitstehen müsse. In der Unterkunft herrsche jetzt bereits Doppelbelegung. Der Rausschmiss folgt: Am 30. Juni steht die Polizei vor dem Zimmer mit der Nummer 41 und begleitet Sonja Müller zu ihrem Golf. Der Großteil ihres Hausrats bleibt zurück. Sie zahlt monatlich 45 Euro Nutzungsgebühr an die Stadt, bis sie ihre Sachen abholt.
Zu ihrem Sohn hat sie nach einem Streit keinen Kontakt, in der Obdachlosenunterkunft hat sie Hausverbot. Ihr Golf ist ihr neues Zuhause. Die Bäckerei ums Eck, die öffentlichen Toiletten für die Morgenhygiene, das Parkbad zum Duschen. Die Wohnungssuche läuft weiter, aber mittlerweile geht es Sonja Müller um mehr. Sie lebt in ihrem Golf, erklärt sie, um gegen soziale Missstände zu protestieren. Gegen die „soziale und seelische Not“der Obdachlosen. Gegen die Misere am Wohnungsmarkt. Sie protestiere, weil der Mensch heute eine Ware ist. Wenn er nichts mehr wert sei, werde er sozial entsorgt. Sie lacht, bevor die Tür des roten Golfs ins Schloss fällt: „Ich tu niemandem weh. Aber ich bin konsequent.“