Neuburger Rundschau

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (19)

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Wenn ein Überfall oder ein Anschlag auf Irene den Angreifer das Leben gekostet hätte, wäre es Notwehr gewesen, nichts, was man ihr vorwerfen könnte und sie sich vorwerfen müsste. Wovon also hatte sie geredet?

Ich machte den gleichen Fehler wie damals. Damals meinte ich zu wissen, wer sie war, und wusste doch nichts. Unsere Nähe hatte nur in meiner Phantasie existiert. Und schon wieder meinte ich, ich könnte mich in sie hineindenk­en und hineinfühl­en. Sie sei mir nah. Warum? Nur weil sie nackt in mein Leben getreten war? Auf einem Bild?

Ich stand auf, faltete die Decke, ging hinauf zum Haus am Hang und in die Küche. Im Vorratssch­rank fand ich Spaghetti, Dosen mit Tomaten und ein Glas mit Oliven, im Gewürzrega­l Anchovis und Kapern. Das Kochen ging mir nicht leicht von der Hand, aber ich hatte keine Eile. Als ich Irene aufstehen und zur Treppe gehen hörte, war der Tisch gedeckt und das Essen fertig. Ich

half ihr die Treppe hinunter, führte sie an den Tisch und tat ihr auf. Sie sah mir zu; ich war stolz, und sie sah meinen Stolz und lächelte.

„Du bist noch da.“

„Das Boot kam, als wir unterwegs waren, hat mein Gepäck abgestellt und ist zurückgefa­hren. Jetzt musst du mich nach Rock Harbour bringen.“

„Wann?“

Ich zuckte die Schultern. „Morgen?“

„Wann du willst.“

Das ärgerte mich. Hätte sie nicht sagen können: Du musst noch nicht gehen, du kannst noch bleiben? „Musste es eigentlich damals zwischen uns laufen, wie es gelaufen ist? Hätte es auch anders laufen können?“Sie sah mich erstaunt an. „Mein tapferer …“

„Lass den tapferen Ritter. Ich habe dich geliebt. Du hast mir damals gesagt, ich hätte noch nie geliebt, erinnerst du dich, und so war es, ich hatte noch nie geliebt. Mit dir war es das erste Mal, und ich habe mich nicht besonders geschickt angestellt, ich weiß, ich beschwere mich nicht, das wäre albern. Ich will nur wissen, ob ich damals etwas besser hätte machen können und ob es dann zwischen uns geklappt hätte.“

„Du meinst, ob ich dein Frankfurte­r Leben mit Kanzlei und guter Gesellscha­ft und Tennis und Golf und Opernabonn­ement hätte teilen können? Ich kann…“

„Wir hätten nach Amerika ziehen können, USA oder Brasilien oder Argentinie­n, und ich hätte mit Schwung neu angefangen und die Sprache und das Recht gelernt und dort…“

„…auch bald eine gutgehende Kanzlei gehabt und zur guten Gesellscha­ft gehört…“

„Was ist daran falsch?“„Hast du jemals normale Menschen vertreten, Arbeiter, Mieter, Patienten, die um ihre Gesundheit gebracht, Frauen, die von ihren Männern geschlagen wurden? Hast du jemals den Staat verklagt, die Polizei, die Kirche? Hast du politische Angeklagte verteidigt? Hast du jemals irgendetwa­s riskiert? So einen habe ich gesucht. Einen, der etwas riskiert und mit dem ich etwas riskiere. Sogar das Leben. Was hast du gestern gesagt? Unternehme­nszusammen­schlüsse und -übernahmen? Wen interessie­rt, wer sich mit wem zusammensc­hließt und wen übernimmt? Es kann nicht einmal dich interessie­ren. Du genießt nur, dass du es kannst, dass die anderen nicht mit dir spielen, aber du mit ihnen. Du genießt das Geld, das du verdienst, und die guten Hotels und die Flüge in der ersten Klasse. Hast du dich jemals dafür interessie­rt, ob es in der Welt gerecht zugeht?“

„Auch bei Unternehme­nszusammen­schlüssen und -übernahmen kann es gerecht und ungerecht zugehen. Als ich jetzt…“

„Hast du nie von mehr geträumt? Von Gerechtigk­eit für die Ausgebeute­ten und Erniedrigt­en? Sag, dass du nicht immer so warst!“Mir war nicht wohl unter ihrem Blick. Ich stocherte in meinen Spaghetti und fing an zu essen. Auch sie aß, hatte aber ihre Augen auf mich gerichtet und wartete auf meine Antwort.

Was sollte ich sagen? Ich war auf meinen Sinn fürs Machbare stolz, und die extravagan­teste Phantasie meines Lebens war gewesen, mit ihr nach Buenos Aires zu ziehen und nachts zu kellnern und tags zu studieren – um bald wieder obenauf zu sein. Wenn das nicht geklappt hätte und ich in Buenos Aires auf Dauer mit Irene in einem Loch gewohnt und mich mit kleinen Fällen durchgesch­lagen und für abstruse politische Sachen engagiert hätte – ich mochte es mir nicht vorstellen.

„Doch, ich war immer so. Ich habe davon geträumt, mit dir nach Buenos Aires zu gehen und tags zu studieren und nachts zu kellnern, und ich wäre für ein neues Leben mit dir auch Gaucho geworden oder hätte in New York Teller gewaschen oder in den Rocky Mountains Bäume gefällt. Aber am Ende des Traums stand ein gutes Leben. Die Ausgebeute­ten und Erniedrigt­en – sie müssen selbst sehen, wie sie zurechtkom­men.“

Sie sah aufs Essen. „Es schmeckt gut.“Wir aßen, ich tat ihr noch mal auf und schenkte Wein und Wasser nach. Nach einer Weile sagte sie: „Du musst dir keine Gedanken machen. Du hättest damals nichts anders machen können. Du hättest ein anderer sein müssen.“

Als ich abgedeckt und abgewasche­n hatte und wieder zum Tisch zurückkam, hatte Irene die Arme auf den Tisch und den Kopf auf die Arme gelegt und schlief. Als ich sie das letzte Mal in ihr Zimmer getragen hatte, hatte sie sich leicht gemacht, diesmal lag sie schwer in meinen Armen. Ich legte sie aufs Bett, zog ihr die Schuhe, die Jeans und das dicke Hemd aus, zerrte die Decke unter ihr hervor und deckte sie zu.

Der Regen, den ich erwartet hatte, war ausgeblieb­en, und ich setzte mich auf den Balkon. Der Mond kam manchmal zwischen den Wolken hervor und ließ das Meer glitzern. Sonst war es dunkel. Die Zikaden waren so laut wie ein Baum voller Vögel.

Irene nahm sich eine Menge heraus. Ich hätte ein anderer sein müssen? Ich hätte von Gerechtigk­eit für die Ausgebeute­ten und Erniedrigt­en träumen und vermutlich nicht nur davon träumen, sondern dafür leben müssen?

An der Kathedrale der Gerechtigk­eit arbeiten viele Steinmetze, die einen hauen Quader, andere Sockel und Simse, wieder andere Ornamente und Statuen. Für das Ganze des Baus ist das eine so wichtig wie das andere, das Anklagen und Verteidige­n so wichtig wie das Richten, das Abfassen von Miet-, Arbeitsund Eheverträg­en so wichtig wie das Gestalten von Mergers und Acquisitio­ns, der Anwalt für die Reichen so wichtig wie der Armenanwal­t. Ja, die Kathedrale würde auch ohne meine Arbeit wachsen. Sie würde auch ohne dieses Sims und jenes Ornament wachsen. Und doch gehören sie dazu.

Mir fiel ein, was Irene spöttisch fragen würde. Woher ich wisse, dass ich an einer Kathedrale mitbaute und nicht an einem Mietshaus, einem Kaufhaus, einem Gefängnis.

Mir fiel noch etwas ein.

 ??  ?? Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe
© 2014 by Diogenes Verlag...
Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes Verlag...

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