Vom Stockdunkeln zum Hellen
Am Barthelmarktmontag öffnen die Zelte bereits um fünf Uhr morgens. Was dann folgt, ist ein Sturm, der selbst hart gesottene Türsteher fasziniert. Wer ihn übersteht, wird mit einer Maß belohnt
Oberstimm Großmütter haben meist einen guten Rat in petto. Auch Saskia Neukirchner aus Donauwörth hat von ihrer Oma einen mitbekommen: „Trinken am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen.“Gesagt, getan. Und so sitzt ihre Enkelin am Barthelmarktmontag mit ihrer Mädelsclique frühs um sechs Uhr in einem Festzelt. Mit ihnen heben tausend andere Frühaufsteher die Krüge.
Die jungen Frauen aus Donauwörth sind mit dem Bus gekommen. Kummer haben sie zwar keinen, stattdessen aber eine schlaflose Nacht. Denn die Gaudi begann bereits am Vorabend in den eigenen vier Wänden. Wie es sich für echte bayrische Madln gehört, gab es um ein Uhr ein Weißwurstfrühstück. Und sie hatten Glück, dass sie überhaupt einen Tisch ergattern konnten. Während das Bier erst ab sechs Uhr fließt, öffnen die Zelte bereits um fünf Uhr. Zwar ist es noch stockdunkel, doch erfahrene Barthelmarktgänger wissen, dass sie sich mindestens eine Stunde vorher anstellen sollten. Auch heuer bilden sich Menschentrauben, die Feierwütigen drängen und schubsen. Für Plätze in den vorderen Reihen kommen die Mädels zu spät. Sie finden sich mitten im Gemenge wieder. In diesem Fall gilt: Flink sein und Ellenbogen ausfahren.
Das taten die Vier, auch wenn zum Schluss der ein oder andere Verlust zu verzeichnen war – ein zerrissenes Dirndl und verlorene Ohrringe. Mit einem Bierkrug in der Hand hat sich der Aufwand aber gelohnt. Warum sie überhaupt so früh da sind? „Na weil das Tradition ist“, sind sich alle einig.
Um Tradition geht es augenscheinlich auch einer Gruppe junger Männer aus Ingolstadt. Das beginnt schon damit, dass sich alle am Barthelmarktmontag Urlaub nehmen, Jahr für Jahr. Sie waren schon Freitag und Samstag da. „Sonntag machen wir immer Pause. Das halten wir sonst nicht durch“, sagt Marcel Gall. Schließlich wolle man am Barthelmarktmontag bis zum Schluss bleiben. Und die Sause ende erst um Mitternacht. An einen Tisch wäre auch diese Gruppe schier nicht gekommen. „Wir haben einfach den Besoffensten angesprochen. Der hat seinen Tisch einfach überlassen“, sagen die Männer und freuen sich, dass nach stundenlangem Ausharren endlich Ausschank ist.
Tradition ist das Schlagwort, das so viele Menschen nach Oberstimm zieht. Was vor 450 Jahren noch ein Pferde- und Tierhandelmarkt war, ist längst schön das größte und beliebteste Volksfest der Region. Mit dem Barthelmarkt selbst sind auch seine Besucherzahlen gewachsen. Gerade am berüchtigten Marktmontag kommen diejenigen, die Spaß haben möchten und besonders gerne eine Maß heben. Viele, weil sie das immer schon taten, andere lassen sich gerne vom Sturm mitreißen. Es gehört eben dazu, genauso wie das Tragen der Tracht.
Während die einen ausgelassen ihren Feiertag begehen, ist für andere Zahltag. Kurz bevor das erste Bier angezapft wird, atmen Florian Siegel und Peter Schultz in der Morgendämmerung noch einmal durch. Die beiden sind zwei angehende Lehrer aus dem Raum Nürnberg und möchten im Herrnbräuzelt etwas als Kellner dazu verdienen. Soeben haben beide den Höhepunkt des Tages beobachtet – den Zeltsturm. Beide sind sich einig, aus Sicht eines Außenstehenden spielen sich dabei verrückte Dinge ab. „Die Menschen sind über ein Meter hohe Barrieren gesprungen, über Bänke gelaufen und haben sich im Flug auf die Tische gelegt“, erzählt Florian Siegel und kann seine Überraschung nicht verbergen. „Diejenigen, die einen Tisch bekommen haben“, sagt Peter Schultz, „haben sich gefreut wie Kinder, die zum ersten Mal Weihnachten erleben.“Den Rest vergleicht sein Kollege mit herumstreunenden Hunden, die unglücklich um die besetzten Tische lungern – das alles sei faszinierend.
Der Musiker Thomas Billner schaut am sehr frühen Morgen noch teilnahmslos auf die Szenerie, die sich unter ihm abspielt. Der Anblick ist für ihn völlig normal geworden. Das vierte Mal spielt er mit seiner Band Gipfelstürmer auf diesem Volksfest. Während er die letzten Instrumente checkt, sinniert er über das Verhalten der Barthelmarktbesucher und seine eigene Rolle. Er bezeichnet alle Menschen, die ein Plätzchen im Zelt gefunden haben, als Schicksalsgemeinschaft. Warum? „An den Tischen sitzen lauter Morgenmuffel. Nach einer langen Nacht sind alle nicht übermäßig aktiv“, eruns klärt Billner. Noch. Denn: „Musiker und Publikum puschen einander hoch und tragen sich gegenseitig durch den Tag.“
Ein Liebhaber grenzenloser Feierlaune ist Franz Widmann, Herr über das Herrnbräuzelt. Er schwärmt: „Erst stehen 100, dann 200 und schließlich Tausende vor den Zelten. Beim Sturm erleben wir hier reine Emotionen. Dieses Phänomen ist einmalig.“
Murat Dogdu kennt nicht nur die heiteren Seiten des Barthelmarkts. Für ihn als Sicherheitsmann ist der Barthelmarkt die „Krönung“im Volksfestbereich. Er meint das aber durchaus kritisch: „Für einen Montag ist das verrückt“, sagt der austrainierte Mann. „Hier gibt es viele, die es maßlos übetreiben.“Es sei gefährlich, wenn Menschen rücksichtslos auf die Tische springen, über Bänke laufen und sich das Zelt innerhalb von einer Minute komplett füllt. Dieses Jahr sei der Zeltsturm allerdings auch besonders hart gewesen.
Vermutlich haben ein paar Großmütter mehr weise Ratschläge erteilt. Einige von ihnen sitzen draußen im Biergarten vorm Zelt. Da ist die Musik nicht so laut.