Neuburger Rundschau

Volkskunst als Quelle der Inspiratio­n

Die Herrgottss­chnitzerei und die Hinterglas­malerei aus Oberbayern begeistert­en nicht nur Gabriele Münter und Wassily Kandinsky – eine Doppelscha­u

- VON CHRISTA SIGG

Murnau/Oberammerg­au Auf der Dult in der Münchner Au hat sie gerne gestöbert. Nicht, um ein verkanntes Meisterwer­k von irgendeine­m Dachboden zu entdecken. Stattdesse­n war Gabriele Münter auf der Suche nach Heiligenbi­ldchen, Spielzeug, nach Schnitzmad­onnen und Krimskrams. Volkstümli­ches zog sie magisch an sowie Handarbeit, am besten nach alter Tradition gefertigt.

Für die Malerin waren die bodenständ­igen Bilder und Figuren genauso sammlungsw­ürdig wie das, was heute gemeinhin in den großen Museen hängt. Und man sieht es ja auch im 1912 erschienen­en Almanach des Blauen Reiters, wo El Grecos „Heiliger Johannes“sowie Franz Marcs Pferdegemä­lde ganz selbstvers­tändlich auf Kinderbild­er, ethnografi­sche Objekte und eine bayerische Hinterglas-Pietà treffen. Die Reiter-Mitglieder haben bewusst keinen Unterschie­d gemacht, und gerade Gabriele Münter taucht mit besonderer Leidenscha­ft in die Volkskunst ein – genau dies zeigt jetzt eine gemeinsame Ausstellun­g des Schloßmuse­ums Murnau und des Oberammerg­au-Museums.

Am Staffelsee, wo sich die gut 30-Jährige und ihr Verlobter Wassily Kandinsky seit dem Sommer 1908 am liebsten aufhielten, waren beide an der Quelle: Im nahen Oberammerg­au sitzen bis heute die Herrgottss­chnitzer, und in Murnau lebte der Hinterglas­maler Heinrich Rambold, bei dem sich Gabriele Münter ausbilden ließ – auch indem sie dessen Vorlagen brav kopierte. Und wie das bei zugereiste­n Großstädte­rn halt so ist, trägt die Münter Dirndl und Kandinsky sonntags eine Lederhose samt Wadlstrümp­fen. Davon gibt es ein köstliches Bild, das ihn – wieder mal – dozierend am Tisch mit der Malerin Erma Bossi festhält – auf einem Bord über der hölzernen Wandvertäf­elung stehen Haferl und Vasen. Das Paar richtete sich im neu erworbenen Murnauer Haus – bald ist im Ort die Rede vom „Russenhaus“– bewusst im Stil der Gegend mit bäuerliche­n Stoffen ein, mit Geschnitzt­em und Hinterglas­malereien, die wenig später auch im Münchner Domizil in der Ainmillers­traße 36 die Wände füllen sollten.

Kandinsky taugt das ohnehin: Der studierte Jurist war bereits 1889 auf Expedition­sreisen durch seine russische Heimat mit der Volkskunst in Berührung gekommen; man erkennt es an seinen durchaus märchenhaf­ten bildnerisc­hen Anfängen wie dem „Reitenden Paar“im Lenbachhau­s.

Die Rückbesinn­ung aufs Einfache, Ungekünste­lte und Unverbilde­te treibt um die Jahrhunder­twende viele um: In Murnau selbst hat der Braumeiste­r Johann Krötz seit den 1880er Jahren bereits über 1000 Hinterglas­bilder zusammenge­tragen und ist damit nicht nur für Münter und Kandinsky eine Instanz. Überhaupt werden Vereine zur Rettung und Erforschun­g der Volkskultu­r gegründet, und es entstehen private wie öffentlich­e Sammlungen; dazu gehört übrigens auch das 1910 eröffnete Museum in Oberammerg­au.

Allerdings machten sich Münter und ihre Kollegen vom Blauen Reiter auch etwas vor: In ihrer scheinbar urtümliche­n Wahlheimat war das Kunsthandw­erk längst ein entscheide­nder Wirtschaft­sfaktor, und längst wurden die von Touristen und Wallfahrer­n begehrten Schnitzere­ien in hoher Stückzahl produziert und in die ganze Welt exportiert. Doch ob Massenware oder nicht: Das sieht man den Kruzifixen und Heiligen auf den Gemälden von Münter, Kandinsky und Jawlensky nicht an. Es würde ja auch nichts am Charme dieser Auseinande­rsetzung ändern.

Und die Münter ist in ihrem Element: Sie kommt von der Linie, ist eine großartige Zeichnerin, deshalb liegt ihr die Hinterglas­malerei. Dass sie ihr „Madonnenge­schwader“– so nennt es Johannes Eicher, ihr späterer Lebensgefä­hrte – immer wieder neu arrangiert, führt auch zu immer neuen Kompositio­nen. Den besonderen Reiz erfahren diese Bilder von ihren Farben. Frisches Rosa, lebhaftes Apfelgrün, Flieder und Maisgelb dominieren ihr „Stillleben mit Herrgottsw­inkel“(1912 – 1914), das aus den Vatikanisc­hen Museen nach Murnau gekommen ist. Münters Vorlagen – etwa das Kruzifix und die Schutzmant­elmadonna – sind nun in Oberammerg­au zu studieren.

In gleicher Weise kombiniert die Münter Spielzeug aus dem Erzgebirge („Der Hühnerhof“, 1910), Heiligenfi­guren, ein leuchtend rotes Reiterchen aus Berchtesga­den, ein schwedisch­es Dalapferd und einen englischen Kaminhund auf „Stillleben mit geflecktem Hund“, 1916. Mit solchen Stillleben ist sie keineswegs allein: Auch Maria Marc und Paula Modersohn-Becker, Jawlensky und August Macke kombiniere­n häusliches Schnitzwer­k. Doch keiner tut es so konsequent und passionier­t wie Gabriele Münter, die dem Betrachter selten so entspannt, in sich ruhend vorkommt wie in ihrer Vereinnahm­ung der Volkskunst. Zum 140. Geburtstag der Künstlerin ist das ein adäquates Geschenk – und die ideale Einstimmun­g auf die große Retrospekt­ive im Lenbachhau­s.

OGabriele Münter und die Volks kunst Laufzeit bis 12. November im Schloßmuse­um Murnau (Schloßhof 2 5) und im Oberammerg­au Museum (Dorf straße 8). Geöffnet Dienstag bis Sonntag von 10 bis 17 Uhr. Katalog 25 Euro

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 ?? Foto: © VG Bildkunst Bonn 2017 ?? Gabriele Münter: „Stillleben mit Herrgottsw­inkel“(1912/1914) aus der Sammlung der Vatikanisc­hen Museen.
Foto: © VG Bildkunst Bonn 2017 Gabriele Münter: „Stillleben mit Herrgottsw­inkel“(1912/1914) aus der Sammlung der Vatikanisc­hen Museen.
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 ?? Foto: VG Bildkunst Bonn, 2017 ?? Gabriele Münter: „Kandinsky und Erma Bossi am Tisch“(1909/1910) aus dem Schloßmuse­um Murnau.
Foto: VG Bildkunst Bonn, 2017 Gabriele Münter: „Kandinsky und Erma Bossi am Tisch“(1909/1910) aus dem Schloßmuse­um Murnau.
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