Neuburger Rundschau

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (23)

- Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Die Frau auf der Treppe

Aus: Bernhard Schlink

© 2014 by Diogenes Verlag AG Zürich

„S ie haben Rathenau gelesen?“

„Ja, ich habe Rathenau gelesen und Weber und Schumpeter und Marx, falls Ihnen die Namen etwas sagen. Ich habe nicht nur Bilanzen und Kurse im Kopf. Und wenn ich recht habe und Sie Irene damals geholfen haben und ich das im Prozess zur Sprache bringe, sind Sie als Anwalt erledigt. Sie sollten beten, dass ich um das Bild keinen Prozess führen muss, nicht gegen Schwind und nicht gegen Irene.“

Er war immer lauter geworden. Ich bat ihn, leise zu sein, Irene wolle schlafen.

„Sie kann gerne hören, was ich zu sagen habe. Hier scheinen ohnehin alle alles zu wissen; ich kann nicht mit Irene reden, ohne dass Sie dabeisitze­n. Machen Sie morgen einen Spaziergan­g, einen schönen, langen Spaziergan­g. Haben Sie mich verstanden?“

Als ich noch überlegte, ob ich nicken sollte, nur damit Gundlach wieder leise würde, trat Kari aus dem Dunkel. Er machte keine bedrohlich­e

Geste und wirkte doch bedrohlich. Er sah Gundlach an und legte die Hand auf den Mund. Gundlach starrte Kari an wie ein Gespenst. Dann war Kari verschwund­en, und Gundlach holte tief Luft und schüttelte den Kopf. „Ich … ich gehe ins Bett.“

Am nächsten Morgen stand Irene nicht auf. Ich wachte vom Klack, Klack auf, mit dem Gundlach den Stock auf die Treppenstu­fen setzte, zog mich an, trat ans Fenster und sah ihn am Strand stehen und aufs Meer sehen. Der Pilot musste ganz leise aufgestand­en und gegangen sein. Er saß wieder auf der Mole, ließ die Beine baumeln und rauchte.

Rief Irene? Ich klopfte an ihre Tür, und sie rief schwach „herein“. Sie lag im Bett, Kopf und Kissen an die Wand gelehnt, und sah so schlecht aus, das Gesicht bleich, die Wangen eingefalle­n, die Haare schweißnas­s, dass ich sie am liebsten sofort im Hubschraub­er ins Krankenhau­s geflogen hätte. Ich setzte mich auf den Bettrand und nahm ihre Hand.

„Was hast du?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Du hast doch keine Geheimniss­e vor mir.“

Sie lächelte. „Nur ein paar.“„Mit dem Hubschraub­er es…“

„Ich komme schon hoch. Heute… Bringst du mir einen starken Kaffee?“

Was ich auch tat, war falsch. Sie gegen ihren Willen in den Hubschraub­er tragen und ins Krankenhau­s fliegen war falsch. Ihr helfen, sich mit Kaffee hochzuputs­chen, durch den Tag zu hetzen und bis zum Abend zu erschöpfen, war falsch. Sie im Bett lassen und versorgen, bis es ihr wieder besser ging, würde sie nicht wollen. Sie im Bett lassen und mich nicht um sie kümmern konnte ich nicht.

„Was, wenn Karl heute kommt? Ich kann mich ausruhen, wenn Peter und Karl weg sind, morgen oder übermorgen. Jetzt muss ich auf die Beine kommen. Hilfst du mir? Bitte!“

Also machte ich starken Kaffee, brachte ihr Kanne und Tasse ans Bett, brachte ihr aus dem Schrank auch einen ledernen Beutel, aus dem sie einen kleinen Spiegel, ein weißes Pulver, eine Rasierklin­ge und ein gläsernes Röhrchen holte, und sah ist zu, wie sie das Kokain in die Nase zog. Auf dem Weg ins Badezimmer musste ich sie noch stützen. Dann brauchte sie meine Hilfe nicht mehr; sie kam aus dem Badezimmer mit schwerem, aber festem Schritt und klarem Blick. Sie war lebhaft, wie gestern nach Gundlachs Ankunft.

„Es ist schon spät. Ich richte das Frühstück. Holst du die anderen?“

Auf dem Weg zum Strand sah ich das Boot um die Spitze der Bucht biegen, und als ich Gundlach erreichte, hatte er es auch gesehen. Das Boot kam näher, und vor der kleinen Kajüte stand Schwind, und wie er für uns deutlicher und deutlicher wurde, mussten wir für ihn deutlicher und deutlicher werden. Schwind und Gundlach hatten Zeit, sich aufeinande­r vorzuberei­ten. Ich wünschte beide zum Teufel.

Schwind stieg aus dem Boot, mit dem auch ich gekommen war. Er nickte Gundlach und mir zu, sah sich prüfend um und ging entschloss­en hinauf zum Haus am Hang. Er war immer noch groß, sperriger als damals in Haltung und Bewegungen, wuchtiger mit dem kahlen Schädel, und strahlte eine große Kraft aus.

Als Gundlach und ich in die Küche kamen, hielt Schwind Irene in den Armen. „Wo warst du? Ich habe dich gesucht, immer habe ich dich gesucht.“Dann sah er uns, ließ Irene los, trat zur Tür, griff nach ihr und fuhr uns an. „Raus!“Irene lachte. „Setzt euch. Das Frühstück ist gleich fertig.“Sie schien alles zu genießen, Schwinds Umarmung, seinen Ausbruch, die Spannung im Raum.

„Was wollen wir hier noch? Lass uns fahren, das Boot wartet.

Wir können in Rock Harbour frühstücke­n und in Sydney den Nachtflug nach New York nehmen. Ich habe mit der Art Gallery gesprochen; ein Wort von dir, und sie bringen das Bild auf den Weg nach New York, rechtzeiti­g zur Werkschau. Erinnerst du dich, wie wir davon geträumt haben? Von der Ausstellun­g im MoMA?“

Irene nickte.

„Wir haben von der Eröffnung geträumt, von den Rednern, die in meinen Bildern Meisterwer­ke und in mir den Meister sehen, von der Bewunderun­g der Gäste. Wir haben vom Heimweg durch den Central Park geträumt, von der Nacht im Hotel, vom Champagner, von der großen Badewanne, vom großen Bett mit Blick auf die Stadt. Endlich ist es so weit.“

Irene lächelte freundlich, amüsiert, distanzier­t. „Das klingt schön.“

Gundlach hielt es nicht mehr aus. „Unsinn! Sie hatten Ihre erste große Ausstellun­g in New York vor Jahren. Von der haben Sie vielleicht noch geträumt. Von der Werkschau, die schon in Berlin und Tokio war und jetzt nach New York kommt, träumen Sie doch nicht mehr! Träumen Sie überhaupt noch? Ein Kollege beschreibt Sie als kalkuliere­nden Kopf, der mit dem Publikum und dem Kunstmarkt und den Preisen spielt. Ich bin Geschäftsm­ann, ich habe damit kein Problem. Aber erzählen Sie Irene keine Märchen!“

Schwind hatte nur Augen für Irene. Er sah sie mit dem kindlichen, zuversicht­lichen Blick an, den ich von damals kannte. „Auf keiner meiner Ausstellun­gen warst du dabei, nicht dein Bild und nicht du. New York nächste Woche – es wird die erste Ausstellun­g, bei der alles stimmt.“

„,Es wird die erste Ausstellun­g, bei der alles stimmt‘“– Gundlach äffte Schwind nach. „Sie wollen das Bild, sonst nichts.“

„Was redet er?“Schwind sah Irene an, als hörten sie beide einen Dummkopf plappern. „Ich habe mit dem Kustos gesprochen und ihm erklärt, dass du lange über mein Bild gewacht hast und dass ich verstehe, dass er es nicht ohne ein Wort von dir auf den Weg nach New York bringen kann. Was geht das ihn an?“Er zeigte mit dem Kopf zu Gundlach.

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