Das Spiegelbild eines trostlosen Jahres
Angelique Kerber hat alles verloren, was sie vor zwölf Monaten zur Nummer 1 im Frauentennis befördert hat
New York Als Angelique Kerber Ende Oktober 2016 in Singapur das Weltmeisterschaftsfinale gegen die Slowakin Dominika Cibulkowa verlor, hätte sie sich drei, vier Wochen in die Ferien verabschieden können. Das beste Jahr einer deutschen Tennisspielerin nach den goldenen Zeiten von Steffi Graf lag hinter der tüchtigen Kielerin, es wäre der richtige Zeitpunkt für Sonne, Strand und süßes Nichtstun gewesen.
Doch Kerber gönnte sich rastlos nicht mal zwei Wochen Urlaub, sie hatte schon wieder die Sorge, die Vorbereitung könne zu kurz kommen. Und dann war da auch noch der dringende Wunsch, es 2017 noch einmal all jenen beweisen zu wollen, die von glücklichen Zufällen bei der Siegesserie redeten – immer noch glaubte Kerber, auf manche Kritiker und Zweifler reagieren zu müssen. Und vergaß dabei ganz, dass sie, die damalige Nummer 1, längst widerlegt hatte, nur ein OneHit-Wonder zu sein. In jenen Herbsttagen des letzten Jahres war die Krise angelegt, die Kerber hartnäckig über frustrierende Wochen und Monate dieser Spielzeit begleitete.
Nie wieder erreichte die 29-jährige Kielerin jene schwindelnden Höhen und rauschhaften Momente des goldigen Jahres 2016, von den ersten Metern an war sie gefühlt in der Defensive, rannte dem enteilenden Feld der Konkurrentinnen und der eigenen Form hinterher, wirkte zerschlissen im PR-Dauertrubel um ihre Nummer-1-Position. „Zu knapp sei die
Phase des Ausspannens“gewesen, gab Kerber nun auch selbst zu, „aber nachher ist man immer schlauer.“Jedenfalls fehlte es an allem bei Kerber, in New York und überhaupt in dieser Saison: an der körperlichen und geistigen Frische, an Selbstbewusstsein, an jener Qualität auch, in den entscheidenden Matches mit der Größe der Herausforderung wachsen zu können.
Und auch die letzte Chance, dieser verkorksten, verdrucksten, verfluchten Serie im Wanderzirkus bei den US Open noch einen verblüffenden Dreh zu geben, verpasste sie dann mit aller nur denkbaren Wucht. Was Kerber beim 3:6, 1:6-Auftaktdesaster gegen die 19-jährige Zukunftshoffnung Naomi Osaka in Runde eins im Arthur Ashe Stadion bot, war über 64 bittere Minuten das passgenaue Spiegelbild eines ganzen Jahres, ein grauer, lebloser Grand-Slam-Tiefpunkt an einem trostlos-verregneten Dienstag. Zurückgestoßen wirkte die Tenniskönigin des Vorjahres wieder in jene Zeiten ihrer Karriere, in denen sie selbst oft die größten Zweifel an sich herumschleppte.
Ohne die felsenfeste Sicherheit, mit starker Physis und Fitness im Wanderzirkus umhertouren zu können, ist Kerber nicht konkurrenzfähig an der absoluten Tennisspitze. „Die Wahrheit ist ganz banal: Wenn sie immer einen halben Schritt zu spät zu den Bällen kommt, kann sie ihre Stärken nicht mehr ausspielen“, sagte die US-Legende Chris Evert, „im letzten Jahr war sie die Drahtigste, die Schnellste, die Eiserne Lady. Sie wirkte immer wie ein Fels in der Brandung.“Auch bei den US Open war das so, vor zwölf Monaten, beim größten Abenteuer ihrer Karriere, beim Sturm auf Platz 1, beim Finalsieg: Kerber flitzte umher wie ein Wirbelwind, es war schlicht atemraubend, welche Bälle sie erreichte und wie sie aus der Bedrängnis noch Gewinnschläge produzierte.
Doch an diesem 29. August 2017 nun war das Spiel, der Auftritt, die ganze Kerber nur eine matte Kopie der Championspielerin, eine früh resignierende Wettkämpferin, die nicht bedingungslos an sich glaubte, auch wenn sie genau das später mit dünner Stimme versicherte: Sie habe nie aufgegeben und „bis zum letzten Punkt alles versucht“. Sie sagte dann auch, sie „werde stärker zurückkommen und das alles nicht so stehen lassen.“Aber Gewissheiten gibt es dafür nicht.
„Wenn sie immer einen halben Schritt zu spät zu den Bällen kommt, kann sie ihre Stärken nicht mehr ausspielen.“US Legende Chris Evert über Kerber