Neuburger Rundschau

Dick wie Telefonbüc­her

Wer soll das alles lesen? Und wie verständli­ch sind die Texte eigentlich?

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Berlin Politiker haben in den vergangene­n Monaten erbittert gestritten, um durchzuset­zen, dass diese oder jene Formulieru­ng im Wahlprogra­mm ihrer Partei landet. Doch wer liest diese oft mehr als 100 Seiten starken Kataloge der Forderunge­n und Verspreche­n überhaupt?

„Das sind vermutlich nur ganz wenige“, sagt der Berliner Politologe Hajo Funke. Er erklärt: „Die Wähler konzentrie­ren sich bei ihrer Entscheidu­ngsfindung auf wenige Kernthemen. Für sie sind die Personen wichtiger. Sie wollen wissen, ob das ein Typ ist, der das, was er ankündigt, auch wirklich durchzieht.“Robert Habeck von den Grünen sei für ihn so ein Typ, SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz eher nicht.

Frank Brettschne­ider vom Institut für Kommunikat­ionswissen­schaft der Universitä­t Hohenheim weiß aus seinen Untersuchu­ngen zu Wahlprogra­mmen: „Die Langfassun­g liest fast keiner komplett von vorne bis hinten, nicht einmal die Parteimitg­lieder.“Bei einer Befragung in Baden-Württember­g gaben nach der Bundestags­wahl 2009 immerhin zwölf Prozent der Parteimitg­lieder an, die Langversio­n nicht einmal in Auszügen gelesen zu haben. Auf die Kurzfassun­g hatten fast alle von ihnen zumindest einmal einen Blick geworfen. Dramatisch findet Brettschne­ider diesen Befund nicht. „Wahlprogra­mme sind keine Wahlwerbem­ittel, sie dienen vor allem der Selbstvero­rtung der Parteien und bilden die Grundlage für Koalitions­verhandlun­gen.“

Ein Blick auf die Wahlprogra­mme für die Bundestags­wahl am 24. September zeigt: Die Grünen haben wieder einmal mehr Worte (60 206) gebraucht, um ihre Positionen darzulegen, als jede andere Partei. Das kürzeste Programm hat mit 16010 Wörtern die AfD vorgelegt. Brettschne­ider und seine Kollegen haben allerdings festgestel­lt, dass „kurz“nicht unbedingt „besonders gut verständli­ch“bedeutet. Ihre Sprachanal­yse zeigt: Die AfD benutzt in ihrem Wahlprogra­mm noch mehr Schachtels­ätze und Wort-Ungetüme als andere Parteien.

Trotzdem interessie­ren sich offensicht­lich relativ viele Menschen für das Programm der Populisten. Nach AfD-Angaben ist die Langfassun­g auf der Website der Partei seit Mai schon mehr als 1,2 Millionen Mal angeklickt worden. Allerdings räumt Parteispre­cher Christian Lüth ein: „Wir gehen davon aus, dass nicht jeder, der unser Programm anschaut, auch unsere Positionen teilt.“Das Wahlprogra­mm der Grünen ist seit dem 19. Juni 100000 Mal angeschaut worden. Der Zehn-Punkte-Plan der Partei war fast ebenso stark gefragt.

Von allen Suchanfrag­en zu Parteien und „Wahlprogra­mm“, die Google in einer Woche Anfang August registrier­te, betrafen 29,4 Prozent die AfD. 17,7 Prozent der User interessie­rten sich für das Programm der CDU, 15,8 Prozent wollten wissen, womit die SPD in den Wahlkampf zieht.

Politikwis­senschaftl­er Funke hat sich auf ein kleines Experiment eingelasse­n. Er ließ sich einzelne Sätze aus den Wahlprogra­mmen der Parteien vorlesen und sollte raten, von wem diese stammen. Das Ergebnis: Wenn es nicht um die Themen geht, mit denen eine Partei besonders stark in der Öffentlich­keit wahrgenomm­en wird, kann selbst ein Experte wie er leicht danebenlie­gen. Eine Aussage der AfD zum Islam lässt sich leicht zuordnen. Wenn dieselbe Partei fordert: „Leiharbeit muss nach einer sechsmonat­igen Beschäftig­ungszeit einer festen Anstellung gleichgest­ellt werden“, besteht jedoch Verwechslu­ngsgefahr mit Parteien links von der Union.

Die Aussage „Ab 60 entscheide­t jeder selbst, wann er in Rente geht“konnte Funke problemlos der FDP zuordnen. Doch die von der AfD stammende Feststellu­ng „Der zunehmende Anteil von prekären Beschäftig­ungsverhäl­tnissen wirkt sich negativ auf den Wohlstand aus“hätte er auf Anhieb eher bei der SPD verortet.

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Foto: Kay Nietfeld, dpa Kanzlerin Merkel blättert im CDU/CSU Wahlprogra­mm.

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