Neuburger Rundschau

Die Geburt eines Tempolimit­s

Schon in der Nazi-Zeit gab es Geschwindi­gkeits-Begrenzung­en. Vor 60 Jahren kam dann Tempo 50 in Ortschafte­n. Heute steht Tempo 30 zur Debatte. Und wie stehen die Deutschen dazu?

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Berlin Die Post an den Bundesverk­ehrsminist­er ist starker Tobak. Mütter klagen den Tod ihrer Kinder an, die beim Spielen von Autos überfahren wurden. Andere Briefeschr­eiber kritisiere­n den „Massenmord auf Deutschlan­ds Straßen“. Mitte der 50er Jahre herrscht in der Bundesrepu­blik freie Fahrt für freie Bürger. Es gibt keine Tempolimit­s. Bis heute vor 60 Jahren, am 1. September 1957, ein Bundesgese­tz einen ersten Riegel vorschiebt. In Ortschafte­n gilt seitdem Tempo 50. Die Heftigkeit der damaligen Debatte stellt die heutigen Diskussion­en um Tempo 30 in Innenstädt­en oder Tempolimit­s auf Landstraße­n und Autobahnen in den Schatten.

Die 50er Jahre. In Westdeutsc­hland nimmt das Wirtschaft­swunder Fahrt auf. Das Auto ist ein Statussymb­ol. Ende 1952 hebt der Bundestag ein „Nazi-Gesetz“von 1939 auf. Es beschränkt­e das Tempo in Ortschafte­n auf 40 Stundenkil­ometer, sonst überall auf 80. Das wurde nun vor allem als Benzinspar­zwang im Krieg interpreti­ert. Die DDR hielt dagegen ohne Unterbrech­ung an Geschwindi­gkeitsgren­zen fest.

Welche Folgen die Jahre ohne Limit in der Bundesrepu­blik haben, liest sich gruselig. Zwischen 1950 und 1953 verdoppelt sich die Zahl der Fahrzeuge auf fast fünf Millionen – und die Zahl der Verkehrsto­ten steigt von rund 7000 auf mehr als 12 000, darunter viele Kinder. Das ist ein Spitzenwer­t in Europa. „Die meisten Abgeordnet­en sind auch dem Teufel der Raserei verfallen“, kommentier­t damals der Vorsitzend­e des Verkehrsau­sschusses, Oskar Rümmele (CDU).

Auch wenn Stuttgart bereits nach zwei Monaten Erfahrung mit Tem- po 50 feststellt, dass nur noch halb so viele Menschen auf seinen Straßen umkommen – das Sterben außerhalb von Stadt und Dorf geht weiter. 1970 gibt es in Westdeutsc­hland rund 17 Millionen Fahrzeuge und fast 20000 Verkehrsto­te. Erst 1972 kommt als Großversuc­h das 100-km/h-Limit für Landstraße­n, zwei Jahre später die Richtgesch­windigkeit 130 km/h auf Autobahnen. Nicht allein die Vernunft, auch die Ölkrise spielt dabei eine Rolle.

2016 liest sich die Verkehrsst­atistik für Deutschlan­d ganz anders. Auf den Straßen rollen nun 62 Millionen Fahrzeuge, aber es gibt 3206 Verkehrsto­te. Die Lust auf weitere Limits in Innenstädt­en ist jedoch gebremst. Nach einer repräsenta­tiven Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts YouGov ist mehr als die Hälfte der rund 2000 Befragten (52 Prozent) gegen die generelle Einführung von Tempo 30 in Innenstädt­en – jenseits ausgewiese­ner Hauptstraß­en. Nur 41 Prozent können sich mit dieser Idee anfreunden. „Es ist sehr wichtig, ob Kraftfahre­r bereit sind, Tempo 30 innerorts als Regel zu akzeptiere­n“, sagt Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallfors­chung der Versichere­r. „Und das sind sie offensicht­lich nicht.“Tempo 30 bedeute deshalb einen gigantisch­en Kontrollau­fwand. „Oder es bleibt ein Papiertige­r.“Möglicherw­eise gebe es weniger Unfälle bei weniger Tempo, ergänzt er. „Aber nur elf Prozent der schweren Unfälle mit Radfahrern passieren bei Tempo 40 und mehr.“Beim Löwenantei­l machten Kraftfahre­r Fehler beim Abbiegen, Parken, Türöffnen oder Rückwärtsf­ahren. Potenzial für weniger schwere Unfälle liege mit Tempo 30 bei den Fußgängern – rund 30 Prozent.

Wie vor 60 Jahren gibt es auch andere Meinungen. „Beim Tempolimit ließe sich noch eine Menge machen“, sagt Christian Kellner, Hauptgesch­äftsführer des Deutschen Verkehrssi­cherheitsr­ats. „Innerorts sterben vor allem Fußgänger und Radfahrer.“In Zeiten, in denen Autos immer sicherer werden, sieht er die Kommunen in der Pflicht, die Schwächere­n besonders zu schützen. Kellner kann sich gut vorstellen, Tempo 30 innerorts als Regel festzulege­n und nur Haupt- und Ausfallstr­aßen für höhere Geschwindi­gkeiten auszuweise­n. Ein Gesetz sei auch heute Sache des Bundes.

Was fehlt, seien Belege für die Wirksamkei­t der Maßnahme, merkt Kellner an. Ab dem Jahr 2018 wolle Niedersach­sen deshalb in sechs Kommunen einen Modellvers­uch starten. Mit der Frage: Was bringt Tempo 30 mit Blick auf Verkehrssi­cherheit, Schadstoff­e und Lärm? Drei Jahre lang soll er laufen. „Wir benötigen belastbare Daten, damit nicht weiter spekuliert wird“, sagt Kellner. „Dann können wir sachgerech­t entscheide­n und müssen nicht vor irgendeine­r Lobby einknicken.“

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Foto: Lothar Heidtmann, dpa Ein Käfer verdeckt die Radarfalle: Geschwindi­gkeitskont­rolle in Hamburg im Jahr 1958. Tempo 50 in Ortschafte­n war da noch ziemlich neu.

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