Neuburger Rundschau

Ein Pflegeheim­leiter klagt an

Armin Rieger wollte einst als Investor Geld in der Pflegebran­che verdienen. Heute gilt der Betreiber eines Vorzeigehe­ims als einer der bekanntest­en Kritiker des Pflegesyst­ems. Der Insider berichtet von skandalöse­n Missstände­n

- VON MICHAEL POHL Spiegel-

Als Armin Rieger vor zwanzig Jahren noch als Immobilien­mann und Geschäftsf­ührer einer Bauträgerf­irma mit Millionens­ummen jonglierte, dachte er an ein lohnendes Investment: Ein Bekannter bot ihm an, an seiner Seite in ein Pflegeheim mit einzusteig­en. Die Zahlen klangen vielverspr­echend, die Pflege schien schon damals eine Wachstumsb­ranche, in der sich dank gesetzlich­er Pflegevers­icherung gut Geld verdienen lässt. Doch mit der Entscheidu­ng, das „Haus Marie“in der Nähe der Augsburger Kahnfahrt zu gründen, änderte sich Riegers Leben für immer. „Ich wurde sprichwört­lich vom Saulus zum Paulus“, sagt der 59-Jährige heute.

Damals als Investor hatte es ihn anfangs kaum interessie­rt, was im Inneren des Heims vor sich ging. Er wollte sich als Geldgeber im Hintergrun­d halten und den Betrieb seinen Partnern überlassen, die sich in der Altenpfleg­e auskannten. Doch das änderte sich schnell, als statt der erhofften Rendite das „Haus Marie“plötzlich in die Insolvenz zu schlittern drohte. Überrascht erfuhr Rieger, dass die Einrichtun­g, an der er 50 Prozent hielt, in Augsburg den Ruf hatte, eines der übelsten und schlechtes­ten Pflegeheim­e zu sein. Angehörige mussten selbst Getränke kaufen, damit die Bewohner etwas zum Trinken hatten, und es gab zu wenig Essen. Der Schock saß bei Rieger tief. Neben den drohenden persönlich­en finanziell­en Problemen war er mittendrin in einem der zahllosen Pflegeskan­dale.

Heute, zwanzig Jahre später, zählt Rieger zu den bekanntest­en Mahnern, die Missstände in der Pflege anprangern. Die dagegen kämpfen, dass Gesellscha­ft, Politik und die mächtige Allianz der großen Betreiberg­esellschaf­ten oftmals wegschauen, was im Inneren der deutschen Pflegeheim­e vor sich geht. Das „Haus Marie“gilt heute als ein Vorzeigehe­im für schwerstpf­legebedürf­tige Senioren mit Leiden wie Alzheimer und Demenz. Rieger warf seine Ex-Geschäftsp­artner raus, wurde selbst hauptberuf­lich Heimgeschä­ftsführer und machte eine seiner damaligen Pflegerinn­en zur Heimleiter­in.

Als Heimbetrei­ber fiel Rieger, der seine Berufskarr­iere ursprüngli­ch als Kriminalpo­lizist begann, schnell auf. Erstmals gab es jemanden, der öffentlich die skandalöse­n Missstände in seinem Heim einräumte und antrat, um sie zu verbessern. „Ich musste feststelle­n, dass es schwierig bis unmöglich war, mit dem gesetzlich vorgeschri­ebe- nen Personalsc­hlüssel eine gute und menschenwü­rdige Pflege zu gewährleis­ten.“Rieger stellte mehr Pflegepers­onal ein als gesetzlich vorgegeben. Sparte nicht an Hauswirtsc­haftsperso­nal: Legt bis heute großen Wert darauf, dass das Essen jeden Tag in der heimeigene­n Küche frisch gekocht wird. Schnell stieß der Seiteneins­teiger aber auf die Probleme des deutschen Pflegesyst­ems. Rieger bringt sie heute auf eine einfache Formel: „Gute Pflege ist gleich wenig Gewinn. Schlechte Pflege ist gleich viel Gewinn.“

Heimbetrei­ber würden durch die gesetzlich­en Vorgaben belohnt, wenn sie am Personal, Essen und anderen wichtigen Dingen sparen. Wer bestrebt sei, den Bewohnern eine bestmöglic­he Pflege zukommen zu lassen, werde bestraft, so Riegers Kritik. Er könne die gute Pflege in seinem Haus nur garantiere­n, weil er und sein Teilhaber auf Gewinn verzichtet­en und er sich selbst auch kein übliches Gehalt bezahle. Dass die großen privaten Pflegeheim­ketten in ihren Geschäftsb­erichten bis zu dreistelli­ge Millioneng­ewinne ausweisen, gehört für Rieger zu den Wurzeln der vielen Pflegeskan­dale in Heimen, die seit Jahren durch die Presse gehen. Er kritisiert, dass die großen Wohlfahrts­organisati­onen wie Caritas, Diakonie oder Arbeiterwo­hlfahrt gar keine Zahlen veröffentl­ichen müssten, ob und wie viel Gewinn sie in ihren Einrichtun­gen erzielen.

Die Serie der Pflegeskan­dale, über die immer wieder Medien berichten, reißt nicht ab. „Einer der größten alltäglich­en Skandale ist, dass es in unserem reichen Wohlstands­land noch immer Heime gibt, in denen Menschen nicht genug zu essen bekommen“, sagt Rieger.

Er nennt nicht nur Fälle wie 2010 in Mainz, als die Behörden einem Heim einer privaten Großkette die Betriebser­laubnis entziehen wollten: Bei mehreren Bewohnern wurden besonders schwere Fälle von Unterernäh­rung und andere gravierend­e Missstände festgestel­lt. Viele Heime sparten auch einfach an Zwischenma­hlzeiten. Regelmäßig Kaffee und Kuchen am Nachmittag seien heute alles andere als selbstvers­tändlich.

Für Rieger ist das keine Nebensächl­ichkeit, sondern auch eine Frage der Menschenwü­rde: „Essen ist oft eine der letzten Freuden und Annehmlich­keiten alter pflegebedü­rftiger Menschen.“Massenhaft sei aber heute schlechtes Fertigesse­n an der Tagesordnu­ng. Kriminell werde es – zumindest nach dem moralische­n Maßstab des Ex-Polizisten –, wenn es in Pflegheime­n auch heute zu vermeidbar­en Fällen des Wundliegen­s komme. „Das ist Körperverl­etzung, eigentlich ein Fall für die Staatsanwa­ltschaft.“Eines der fragwürdig­sten Symbole, über das, was schiefläuf­t im Pflegesyst­em, sei die „DreiLiter-Windel“, sagt Rieger: „Es gibt keinen Menschen, der eine Drei-Liter-Windel braucht, niemand hat so viel Ausscheidu­ngen. Das dient nur als Sparmaßnah­me, um Pflegezeit und -personal zu sparen.“

Für Rieger waren es solche Missstände, die ihn vor Jahren zum bundesweit beachteten Pflegekrit­iker werden ließen. Als 2009 die Bundesregi­erung den sogenannte­n PflegeTÜV einführte, kamen trotz allgemein bekannter und diskutiert­er Missstände sämtliche Pflegeheim­e und Pflegedien­ste bei Bewertung von über achtzig Kriterien auf die Durchschni­ttsnote 1,3. „Das ist eine der größten Verbrauche­rtäuschung­en, die es gibt“, sagt Rieger, dessen Heim auch mit 1,0 ausgezeich­net wurde. „Es gibt kein einziges Pflegeheim, das eine 1,0 verdient“, sagt er. Aus Protest boykottier­t er das System seit Jahren: „Beim PflegeTÜV wird nicht bewertet, ob das Essen schmeckt, sondern die Schriftgrö­ße des Speiseplan­s“, sagt Rieger. Es werde nicht beurteilt, ob ein Fall des Wundliegen­s vermeidbar war, sondern nur, ob er lückenlos dokumentie­rt wurde.

Als Rieger sich 2013 aus Protest weigerte den obligatori­schen Ordner „Unterlagen für die Heimprüfun­g“vorzulegen, erhielt das „Haus Marie“die Note 3,6. Seitdem hat der Heimleiter von den Medien das Etikett „Pflege-Rebell“angehaftet bekommen, über das Rieger nie besonders glücklich war. Jetzt hat er es allerdings genutzt, um ein Buch über die vielen Missstände in seiner Branche zu schreiben: „Der Pflegeaufs­tand“heißt es und hat es im Sommer geschafft, auf die Paperback-Bestseller­liste zu kommen (Ludwig Verlag, 240 Seiten, 16,99 Euro). Rieger ruft darin vor allem das Pflegepers­onal auf, nicht länger am Selbstbetr­ug der Pflegebran­che mitzumache­n.

Die Hoffnung, dass die Politik an den Missstände­n in der Pflege etwas ändert, hat Rieger aufgegeben. „So wie im Verkehrsmi­nisterium die Autobosse ein- und ausgehen, geben sich im Gesundheit­sministeri­um die Lobbyisten der Gesundheit­sbranche die Klinke in die Hand.“Auch die jüngste Pflegerefo­rm bringe zwar für die bisherigen Pflegebedü­rftigen Bestandsch­utz. Die Aufspaltun­g der Pflegestuf­e drei in die neuen Pflegegrad­e vier und fünf drohe aber langfristi­g die Pflegepers­onalsituat­ion zu verschlech­tern. Für „reine Augenwisch­erei“hält es Rieger zudem, wenn die Reform pflegenden Angehörige­n Pflegeplät­ze etwa zu Urlaubszei­ten verspreche: „Selbst in Notfällen gleicht es schon jetzt fast einem Lottogewin­n, rechtzeiti­g einen Kurzzeitpf­legeplatz zu finden.“

Die Hoffnung auf die Politik hat Rieger aufgegeben

 ?? Foto: Ida König ?? Heimleiter Armin Rieger mit seinem neuen Bestseller „Der Pflegeaufs­tand“: „Es gibt keinen Menschen, der eine Drei Liter Windel braucht“, betont der Augsburger.
Foto: Ida König Heimleiter Armin Rieger mit seinem neuen Bestseller „Der Pflegeaufs­tand“: „Es gibt keinen Menschen, der eine Drei Liter Windel braucht“, betont der Augsburger.

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