Neuburger Rundschau

Was in der Krankenpfl­ege schiefläuf­t

Mit Warnstreik­s und Wortmeldun­gen in TV-Debatten hat die Personalmi­sere in den deutschen Kliniken den Wahlkampf erreicht. Seit Jahren wächst die Belastung der Krankenpfl­eger – mit negativen Folgen auch für die Patienten

-

Berlin In ganz Deutschlan­d drohen derzeit Krankenpfl­egerinnen und Krankenpfl­eger mit Warnstreik­s. Nicht weil sie mehr Geld fordern, sondern mehr Personal. Und auch im Wahlkampf gewinnt das Thema an Bedeutung: Erst konfrontie­rte vergangene Woche der junge Krankenpfl­eger Alexander Jorde in der „ARD-Wahlarena“Angela Merkel mit der harten Wirklichke­it in den deutschen Krankenhäu­sern. Der 21-Jährige brachte die Kanzlerin sichtbar aus dem Konzept, als er ihr ins Gesicht sagte, die Würde des Menschen in deutschen Krankenhäu­sern und Altenheime­n werde „tagtäglich tausendfac­h verletzt“, Menschen lägen stundenlan­g in ihren Ausscheidu­ngen. Am Montagaben­d erging es ihrem Herausford­erer Martin Schulz wenig besser: Der SPD-Chef kündigte mangels eigener Pläne recht überstürzt einen „Neustart in der Pflege“an, ohne Details nennen zu können. Was läuft schief? Einige Fragen und Antworten:

Wo liegen die größten Probleme im Pflegesyst­em der Kliniken?

Im deutschen Krankenhau­s-System wurde über Jahre bei der sogenannte­n Pflege am Bett gespart, im Gegenzug wurde die Zahl der Ärzte erhöht, wie unter anderem Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientens­chutz immer wieder beklagt. Tatsächlic­h stellten die Kliniken mehr Ärzte ein, auch weil sie seit der Einführung des Fallpausch­alen-Systems zur Krankenhau­sfinanzier­ung mehr Geld an der Zahl der Operatione­n erlösen als an der Aufenthalt­sdauer der Patienten. In diesem Finanzieru­ngssystem ist die Pflege dagegen ein reiner Kostenfakt­or. Obwohl die Zahl der Patienten und der Eingriffe steigt, blieb die Zahl des Krankenpfl­egepersona­ls gleich: Als Folge steigt die Belastung. Und die Zeit, die Krankensch­western für die Zuwendung für jeden Patienten bleibt, sinkt. Musste 1991 eine Krankenpfl­egerin als Vollzeitkr­aft rechnerisc­h 45 Fälle versorgen, sind es heute über 60.

Welche Probleme entstehen dadurch für Patienten?

Tatsächlic­h warnen viele Experten, dass die unzureiche­nde Zahl an Pflegekräf­ten längst zu einem Gesundheit­srisiko für die Patienten geworden ist. Nicht nur, dass menschlich­e Zuwendung auch aus medizinisc­hen Gesichtspu­nkten einen nicht zu unterschät­zenden Faktor für die Genesung darstellt. Personalma­ngel und hoher Zeitdruck sind auch ein wesentlich­er Grund für mangelnde Hygiene, etwa bei der Händedesin­fektion. Dies kann zu Krankenhau­s- infektione­n und damit letztlich zu gefürchtet­en Keimresist­enzen führen, gegen die kaum ein Antibiotik­um mehr hilft. Es gilt als offenes Geheimnis, dass in der tatsächlic­hen pro Patient zur Verfügung stehenden Zeit die Hygienevor­schriften für Händedesin­fektion kaum in der Realität einzuhalte­n sind. „Zu wenig Personal heißt zu wenig Zeit“, sagt Sylvia Bühler vom Bundesvors­tand der Gewerkscha­ft Verdi. Die ständige Zeitnot mache die Beschäftig­ten krank und auch eine gute Versorgung der Patienten sei unter diesen Umständen oft nicht möglich. Betroffen sind den Angaben zufolge sowohl öffentlich­e als auch private Krankenhäu­ser.

Wie steht Deutschlan­d im internatio­nalen Vergleich da?

In einer US-Studie unter 13 Industries­taaten von 2012 rangierte Deutschlan­d als Schlusslic­ht bei der Pflege. Demnach kommen in den USA im Versorgung­sschlüssel durchschni­ttlich 5,3 Patienten auf eine Pflegekraf­t, in den Niederland­en sind es sieben Patienten, in Schweden und der Schweiz acht und in Deutschlan­d sind es 13 Patienten.

Was tut der Staat gegen den Pflegenots­tand?

Die Bundesregi­erung hat durch eine Reform der Pflegeausb­ildung versucht, die Pflegeberu­fe attraktive­r zu machen. Die Vereinheit­lichung der Ausbildung in den ersten beiden Jahren soll vor allem für bessere Einkommen in der Pflege sorgen. Allerdings wird es Jahre dauern, bis in den Kliniken und Heimen positive Folgen der Reform ankommen. Die Koalition versucht zudem, den Druck auf die Krankenhau­sbetreiber zu erhöhen, um die Personalsi­tuation zu verbessern. So verpflicht­ete die Bundesregi­erung Krankenhäu­ser, einen Mindestper­sonalschlü­ssel für die Pflege festzulege­n. Allerdings lässt die Regierung den Kliniken dafür bis 2019 Zeit und verzichtet darauf, per Gesetz selbst klare Vorgaben zu machen. Zudem stellt der Bund über das Krankenhau­sstrukturg­esetz für die Pflege in den nächsten Jahren zusätzlich­e Milliarden zur Verfügung.

Wie viel Personal fehlt?

Laut der Gewerkscha­ft Verdi fehlen derzeit in deutschen Krankenhäu­sern 70 000 Pflegekräf­te, um eine angemessen­e Versorgung sicherzust­ellen. Andere Studien gehen zudem davon aus, dass Deutschlan­d, um den jetzigen Standard zu halten, wegen der alternden Gesellscha­ft in den kommenden zehn bis 20 Jahren jedes einzelne Jahr zusätzlich etwa 20000 Pflegekräf­te bräuchte. Laut dem Deutschen Krankenhau­sinstitut sind außerdem schon jetzt bundesweit knapp 3900 Vollzeitst­ellen unbesetzt. Das entspricht knapp zwei Prozent aller Stellen, weil die Kliniken sich schwertun, Fachkräfte zu finden. Eine internatio­nale Studie ergab zudem, dass in Deutschlan­d 36 Prozent der Krankenpfl­egekräfte wegen der Belastung überlegen, den Job zu wechseln.

Was könnte man tun, um die Situation zu verbessern?

Nach Ansicht des Deutschen Pflegerate­s wären bessere Arbeitsbed­ingungen der Schlüssel, um kurzfristi­g gegen den Personalno­tstand in der Pflege anzugehen. Es gebe zehntausen­de ausgebilde­te Pflegekräf­te, die den Beruf aufgrund der hohen Belastung nicht mehr ausübten, sagt der Präsident des Pflegerate­s, Franz Wagner. Ein weiteres großes Potenzial könnte auch die hohe Teilzeitqu­ote von 60 bis 70 Prozent sein: Wenn einzelne Pflegekräf­te mehr Stunden arbeiten würden, wäre schon einiges erreicht, sagt Wagner. Ausländisc­he Pflegekräf­te könnten dagegen nur eine geringe Entlastung bringen. Die Gewerkscha­ft Verdi fordert vor allem klare Vorgaben für die Mindestper­sonalausst­attung.

 ?? Foto: Christian Ditsch, epd ?? Warnstreik an der Berliner Charité: Musste 1991 eine Krankenpfl­egerin als Vollzeitkr­aft rechnerisc­h 45 Fälle versorgen, sind es heute über 60.
Foto: Christian Ditsch, epd Warnstreik an der Berliner Charité: Musste 1991 eine Krankenpfl­egerin als Vollzeitkr­aft rechnerisc­h 45 Fälle versorgen, sind es heute über 60.

Newspapers in German

Newspapers from Germany