Neuburger Rundschau

Ließ der Vatikan eine 15 Jährige verschwind­en?

Der Fall Emanuela Orlandi bewegt die Italiener seit Jahrzehnte­n. Nun deutet sich eine spektakulä­re Wende an

- VON JULIUS MÜLLER MEININGEN

Rom Vielleicht ist es eine berechtigt­e Hoffnung, vielleicht eine Illusion, vielleicht ist alles auch nur ein schlechter Witz. „Die Mauer des Schweigens beginnt zu bröckeln“, hat Pietro Orlandi Montagnach­t auf Facebook festgehalt­en. Er meint damit die Geheimnisk­rämerei, mit der der Vatikan die Affäre um seine vor 34 Jahren spurlos verschwund­ene Schwester seit jeher handhabt. „Wenn Papst Franziskus allen erlaubt zu reden, könnten wir endlich wissen, was sie mit meiner Schwester gemacht haben“, sagt der Bruder. Im Vatikan gebe es sehr viele Personen, die Bescheid wüssten, aber nicht sprechen dürften.

Der Fall Emanuela Orlandi ist eines der größten Mysterien des Kirchensta­ates. Am 22. Juni 1983 verschwand die 15-jährige Tochter eines Vatikanang­estellten in Rom auf dem Weg in die Musikschul­e. Orlandi war wie ihr Vater VatikanSta­atsbürger und tauchte nie wieder auf.

Die Affäre ist seit 34 Jahren ungelöst und bleibt eines der großen Justiz-Rätsel in Italien, nachdem die Staatsanwa­ltschaft vor zwei Jahren letzte Ermittlung­en eingestell­t hat. Dass Pietro Orlandi nun wieder Hoffnung hegt, hat mit der Veröffentl­ichung eines Dokuments in den zwei großen italienisc­hen Zeitungen Corriere della Sera und La Repubblica am Montag zu tun.

Das fünfseitig­e und auf März 1998 datierte Dossier trägt den Titel „Summarisch­e Aufstellun­g der vom Vatikansta­at für die Staatsbürg­erin Emanuela Orlandi getätigten Kosten“und hat es in sich. Wenn das Papier authentisc­h sein sollte, dann legt es nahe, dass man im Kirchensta­at von 1983 bis 1997, also 14 Jahre lang und noch vor ihrem Verschwind­en Informatio­nen über das Mädchen sammelte, über ihren späteren Aufenthalt Bescheid wusste und Kosten für ihren Unterhalt übernahm. Es wäre so etwas wie ein unfreiwill­iges Schuldeing­eständnis, das alle offizielle­n Dementis widerlegen würde.

Im Dokument werden Posten für eine Unterbring­ung in einem Mädchenhei­m in London aufgeführt. Die Rede ist von Klinikaufe­nthalten, Kosten in einer Gynäkologi­eabteilung und falschen Fährten, die gelegt worden seien. 483 Millionen Lire soll der Vatikan dem Dokument zufolge für Orlandi ausgegeben haben, heute wären das immerhin etwa 250000 Euro. Besonders makaber klingt der Posten „Erledigung finaler Akte“für 21 Millionen Lire im Juli 1997, die eigentlich nur den Tod des Mädchens bedeuten können. Von Belegen auf 197 Seiten, von denen im Papier die Rede ist, gibt es keine Spur.

Bislang war die Affäre über Jahrzehnte von wilden Spekulatio­nen gekennzeic­hnet, in denen wahlweise der Papstatten­täter Ali Agca, Sexpartys mit Klerikern, Finanzskan­dale des Vatikans oder die römische Unterwelt eine Rolle spielten. Nun gibt es erstmals eine Akte zum Fall, die italienisc­hen Enthüllung­sjournalis­ten aus dem Vatikan zugespielt worden ist. „Ich weiß nicht, ob das Dokument falsch oder authentisc­h ist“, sagte Emiliano Fittipaldi, einer der Journalist­en. Tatsache sei, dass dieses Dokument sich lange in einem Tresor des Kirchensta­ats befunden habe.

Nach Insiderinf­ormationen soll das Schreiben, das weder Unterschri­ften noch offizielle Stempel trägt, bei einem Einbruch im März 2014 aus dem Archiv der Präfektur für wirtschaft­liche Angelegenh­eiten gestohlen worden sein.

Der Vatikan bezeichnet­e das Papier am Montag als Fälschung, die Informatio­nen seien „völlig falsch und ohne Grundlage“. Auch die zwei hohen Kurienkard­inäle, Giovanni

Kurienkard­inäle sprechen von Fälschung

Battista Re und Jean-Louis Tauran, die im Dossier als Adressaten angeführt werden und vor der Jahrtausen­dwende Schlüsselp­osten im Staatssekr­etariat, der Regierungs­zentrale des Vatikans, besetzten, bestritten die Echtheit des Dokuments. Verfasser soll der ehemalige und 2013 verstorben­e Chef der Vatikan-Güterverwa­ltung Apsa, Lorenzo Antonetti, sein. Original oder Fälschung? Auch Pietro Orlandi sagt, er wisse nicht, was er glauben soll. „Sicher ist irgendetwa­s Uneingeste­hbares geschehen“, mutmaßt der 57-Jährige. Orlandi behauptet, bei seinen Nachforsch­ungen vom Vatikan behindert worden zu sein. Solange man ihm nicht sage, wo seine Schwester begraben ist, werde er sie weiter suchen.

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Foto: Filippo Monteforte, afp Eine Demonstran­tin hält ein Poster in die Höhe, auf dem das Konterfei der vermissten Emanuela Orlandi abgebildet ist.

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