Neuburger Rundschau

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (40)

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Dann konnte sie nicht mehr. Ich trug sie zur Treppe und die Treppe hoch und legte sie aufs Bett auf dem Balkon. Es war so früh, dass die Sonne noch aufs Bett schien; ich spannte den Sonnenschi­rm auf und rückte ihn zurecht. „Riechst du etwas?“„Nein. Was riechst du?“„Feuer. Aber vielleicht irre ich mich.“

Ich ging durchs Haus und sah nach dem Gasherd und dem Gasboiler und den Kerzen, die wir in den letzten Tagen manchmal angezündet hatten. Ich sah auch nach den Vorräten; in zwei, drei Tagen würde ich wieder in den Ort fahren müssen. Ich hätte gerne auch einen Vorrat an Morphium für den Fall gehabt, dass Irene starke Schmerzen bekäme. Könnte Kari wenn nicht Morphium, dann Heroin besorgen?

Als ich auf den Balkon zurückkam, schlief Irene. Ich setzte mich zu ihr und sah sie an. Das aus dem Gesicht gekämmte und im Nacken

geraffte Haar, die Querfalten auf der Stirn und die steilen Furchen in den Wangen, der Mund, dessen Lippen dünn geworden waren, das runde und starke Kinn, die leere Haut unter dem Kinn und am Hals – sie sah streng aus. Ich machte allerlei Grimassen, fand aber weder heraus, von welcher Mimik die Furchen in den Wangen herrührten, noch was die Fältchen in die Augenwinke­l gezeichnet hatte – lachende Freude an der Welt oder deren furchtsame Ablehnung mit zugekniffe­nen Augen? Sie hatte kein liebes Gesicht. Und doch war es mir lieb, und ich dachte an die Freude und die Furcht und die tiefen Einschnitt­e in Irenes Leben.

Je länger ich es ansah, desto besser meinte ich, ihr Gesicht zu verstehen. Da war beides, wie um die Augen Freude und Furcht, so in den Wangen Härte und Weichheit, und die dünnen Lippen waren bereit, bezaubernd zu lächeln.

Sie schlug die Augen auf. „Was schaust du mich an?“ „Ich schaue dich eben an.“Sie fand die Antwort nicht gut und schüttelte lächelnd den Kopf.

„Wenn ich dich anschaue, finde ich in deinem Gesicht, was ich von dir weiß, und auch, was ich noch nicht weiß, und setze es zusammen. Jedesmal kenne ich dich besser. Jedesmal liebe ich dich mehr.“

„Ich habe geträumt, ich sei mit der Bahn unterwegs, zuerst mit einem Express- und dann mit einem Vorortzug, und als ich ausstieg, wusste ich schon, dass es die falsche Station war, aber ich stieg trotzdem aus, und es war die falsche Station, so verlassen und verkommen, als habe hier schon lange kein Zug mehr gehalten.

Ich bin durch das Bahnhofsge­bäude auf den Bahnhofsvo­rplatz gegangen, und auch hier war alles öde, keine Taxen, keine Busse, keine Menschen.

Aber dann sah ich Karl und Peter, beide saßen auf ihren Koffern, altmodisch­en Behältniss­en ohne Bügel und Rollen, als warteten sie darauf, abgeholt zu werden. Als ich zu ihnen trat, sahen sie nicht auf, rührten sich nicht, und mir war, als seien sie schon lange gestorben und säßen tot auf ihren Koffern. Ich erschrak – aber nicht, als träfe mich ein Schlag, sondern als krieche mir langsam etwas Kaltes den Rücken hinauf. Dann wachte ich auf.“

„Ich kann Träume nicht deuten. Träume sind Schäume, hat meine Frau gesagt. Aber was ihr über das Ende der Welt und der Kunst und der Alternativ­en geredet habt – wart ihr da nicht auf dem Bahnhof, von dem kein Zug mehr fährt? Habt ihr nicht tot auf euren Koffern gesessen?“Ich hatte sie gleich nach der Abreise der anderen fragen wollen, es dann aber vergessen. „Glaubst du eigentlich, was ihr geredet habt?“

Sie schaute sich um, ich merkte, dass sie sich aufrichten wollte, und brachte ihr Kissen. Dann saß sie und sah mich mit dem traurigen und zärtlichen Blick an, den ich inzwischen kannte und der mir zu sagen schien, sie sei mir zärtlich zugetan und zugleich traurig, weil ich nicht verstand, was sie gerne hätte, dass ich es verstünde.

„Mein reiner Tor“, sagte sie, „du gehst durchs Leben und kämpfst deine Kämpfe, wie die Ritter ihre Turniere gekämpft haben, und wie sie merkst du nicht, dass es Spiegelfec­htereien geworden sind und eine Zeit an ihr Ende gekommen ist. Ich habe dich lieb dafür, dass du so eifrig von Auftrag zu Auftrag stapfst und getreulich noch eine Fusion und noch eine Übernahme machst und meinst, das wäre von Belang. Es rührt mich. Und es macht mich traurig.“

Ich wollte widersprec­hen. Ich wollte rechtferti­gen, was ich machte. Erklären, dass Fusionen und Übernahmen von Belang sind. Dass die Kämpfe, die ich kämpfte, keine Spiegelfec­htereien waren. Dass nichts an sein Ende gekommen war, dass alles weiter und weiter ging.

„Mach dir keine Gedanken. Wenn Leute von der Welt reden, reden sie meistens von sich. Vielleicht kann ich nur nicht ertragen, dass es mit mir zu Ende geht, ohne dass es auch mit der Welt zu Ende geht. Komm!“

Wir hielten uns, jeder an seine Gedanken verloren und doch beim anderen. Dann wurden mir meine Gedanken fade, und auch ich wurde traurig, weil auch ich die Grenze spürte, an der wir einander nicht verstanden oder nicht miteinande­r fühlten.

Nicht nur Irene und ich – es gab von früh an eine Glasscheib­e, die mich die anderen nicht wirklich erreichen ließ, nicht meine Frau, nicht meine Kinder, nicht meine Freunde. Ich war immer für mich.

Ich hätte schon wieder – aber ich hatte am Abend davor genug geweint. Ich versuchte immerhin, in unserer Umarmung zu bleiben und jedes andere Gefühl, jeden anderen Gedanken, wenn sie kamen, wieder gehen zu lassen. Es fiel mir nicht leicht.

Am nächsten Morgen roch Irene wieder Feuer.

„Wäre Kari nicht hier, wenn was wäre? Soll ich zu Meredene fahren? Wir brauchen ohnehin Vorräte.“Sie schüttelte den Kopf. „Geh nicht weg. Du hast recht – wenn was ist, kommt Kari.“Sie sah mich ängstlich an.

„Heute kann ich es vielleicht wieder nicht halten. Ich bin so schwach – so schwach war ich noch nie. Ich war einmal krank, als ich die Kinder noch hatte. Das Fieber stieg immer höher, und schließlic­h legte ich mich ins Bett und war dankbar, dass ich nichts tun musste, sondern liegen durfte. Es ist einfach schön, liegen zu dürfen. Liegen und schlafen und sterben. Erzählst du mir etwas?“

„Ich habe zwei Erinnerung­en an meine Mutter. Meine Eltern sind gleich nach dem Krieg mit mir von Nord- nach Süddeutsch­land gezogen, und wir haben die Reise im Anhänger des Umzugswage­ns gemacht, der vorne Fenster und eine Bank hatte, wie ein Lastwagen die Bank für Fahrer und Beifahrer hat, aber ohne Steuer und Motor. Auf dem Schoß meiner Mutter sitzen und aus dem Fenster sehen – das ist die eine Erinnerung. Die andere ist, wie meine Mutter einmal mit mir auf dem Spielplatz war.

 ??  ?? Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe
© 2014 by Diogenes Verlag...
Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes Verlag...

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