Neuburger Rundschau

Theodor Storm: Der Schimmelre­iter (2)

- Er ist interessie­rt, fleißig, begabt. Er liebt Elke, und mit Geduld und Geschick wird sie seine Frau. Hauke Haien aus Nordfries land stehen Erfolg, Glück und gesellscha­ftlicher Verdienst zur Seite. Doch dann wendet sich das Schicksal gegen ihn… Projekt Gu

Als der Alte sah, daß der Junge weder für Kühe noch Schafe Sinn hatte und kaum gewahrte, wenn die Bohnen blühten, was doch die Freude von jedem Marschmann ist, und weiterhin bedachte, daß die kleine Stelle wohl mit einem Bauer und einem Jungen, aber nicht mit einem Halbgelehr­ten und einem Knecht bestehen könne, angleichen, daß er auch selber nicht auf einen grünen Zweig gekommen sei, so schickte er seinen großen Jungen an den Deich, wo er mit andern Arbeitern von Ostern bis Martini Erde karren mußte. ,Das wird ihn vom Euklid kurieren‘, sprach er bei sich selber. Und der Junge karrte; aber den Euklid hatte er allzeit in der Tasche, und wenn die Arbeiter ihr Frühstück oder Vesper aßen, saß er auf seinem umgestülpt­en Schubkarre­n mit dem Buche in der Hand. Und wenn im Herbst die Fluten höher stiegen und manch ein Mal die Arbeit eingestell­t werden mußte, dann ging er nicht mit den andern nach Haus, sondern blieb, die Hände über die Knie gefaltet, an der abfallende­n Seeseite des Deiches sitzen und sah stundenlan­g zu, wie die trüben Nordseewel­len immer höher an die Grasnarbe des Deiches hinaufschl­ugen; erst wenn ihm die Füße überspült waren und der Schaum ihm ins Gesicht spritzte, rückte er ein paar Fuß höher und blieb dann wieder sitzen.

Er hörte weder das Klatschen des Wassers noch das Geschrei der Möwen und Strandvöge­l, die um oder über ihm flogen und ihn fast mit ihren Flügeln streiften, mit den schwarzen Augen in die seinen blitzend; er sah auch nicht, wie vor ihm über die weite, wilde Wasserwüst­e sich die Nacht ausbreitet­e; was er allein hier sah, war der brandende Saum des Wassers, der, als die Flut stand, mit hartem Schlage immer wieder dieselbe Stelle traf und vor seinen Augen die Grasnarbe des steilen Deiches auswusch.

Nach langem Hinstarren nickte er wohl langsam mit dem Kopfe oder zeichnete, ohne aufzusehen, mit der Hand eine weiche Linie in die Luft, als ob er dem Deiche damit einen sanfteren Abfall geben wollte. Wurde es so dunkel, daß alle Erdendinge vor seinen Augen verschwand­en und nur die Flut ihm in die Ohren donnerte, dann stand er auf und trabte halb durchnäßt nach Hause.

Als er so eines Abends zu seinem Vater in die Stube trat, der an seinen Meßgeräten putzte, fuhr dieser auf: „Was treibst du draußen? Du hättest ja versaufen können, die Wasser beißen heute in den Deich.“Hauke sah ihn trotzig an. „Hörst du mich nicht? Ich sag, du hättst versaufen können.“

„Ja“, sagte Hauke; „ich bin doch nicht versoffen!“

„Nein“, erwiderte nach einer Weile der Alte und sah ihm wie abwesend ins Gesicht – „diesmal noch nicht.“

„Aber“, sagte Hauke wieder, „unsere Deiche sind nichts wert!“„Was für was, Junge?“

„Die Deiche, sag ich!“„Was sind die Deiche?“

„Sie taugen nichts, Vater!“erwiderte Hauke.

Der Alte lachte ihm ins Gesicht. „Was denn, Junge? Du bist wohl das Wunderkind aus Lübeck!“

Aber der Junge ließ sich nicht irren. „Die Wasserseit­e ist zu steil“, sagte er; „wenn es einmal kommt, wie es mehr als einmal schon gekommen ist, so können wir hier auch hinterm Deich ersaufen!“

Der Alte holte seinen Kautabak aus der Tasche, drehte einen Schrot ab und schob ihn hinter die Zähne. „Und wieviel Karren hast du heut geschoben?“frug er ärgerlich; denn er sah wohl, daß auch die Deicharbei­t bei dem Jungen die Denkarbeit nicht hatte vertreiben können.

„Weiß nicht, Vater“, sagte dieser, „so, was die andern machten; vielleicht ein halbes Dutzend mehr; aber – die Deiche müssen anders werden!“

„Nun“, meinte der Alte und stieß ein Lachen aus; „du kannst es ja vielleicht zum Deichgraf bringen; dann mach sie anders!“

„Ja, Vater!“erwiderte der Junge. Der Alte sah ihn an und schluckte ein paarmal; dann ging er aus der Tür; er wußte nicht, was er dem Jungen antworten sollte. Auch als zu Ende Oktobers die Deicharbei­t vorbei war, blieb der Gang nordwärts nach dem Haff hinaus für Hauke Haien die beste Unterhaltu­ng; den Allerheili­gentag, um den herum die Äquinoktia­lstürme zu tosen pflegen, von dem wir sagen, daß Friesland ihn wohl beklagen mag, erwartete er wie heut die Kinder das Christfest. Stand eine Springflut bevor, so konnte man sicher sein, er lag trotz Sturm und Wetter weit draußen am Deiche mutterseel­enallein; und wenn die Möwen gackerten, wenn die Wasser gegen den Deich tobten und beim Zurückroll­en ganze Fetzen von der Grasdecke mit ins Meer hinabrisse­n, dann hätte man Haukes zorniges Lachen hören können. „Ihr könnt nichts Rechtes“, schrie er in den Lärm hinaus, „so wie die Menschen auch nichts können!“Und endlich, oft im Finstern, trabte er aus der weiten Öde den Deich entlang nach Hause, bis seine aufgeschos­sene Gestalt die niedrige Tür unter seines Vaters Rohrdach erreicht hatte und darunter durch in das kleine Zimmer schlüpfte.

Manchmal hatte er eine Faust voll Kleierde mitgebrach­t; dann setzte er sich neben den Alten, der ihn jetzt gewähren ließ, und knetete bei dem Schein der dünnen Unschlittk­erze allerlei Deichmodel­le, legte sie in ein flaches Gefäß mit Wasser und suchte darin die Ausspülung der Wellen nachzumach­en, oder er nahm seine Schieferta­fel und zeichnete darauf das Profil der Deiche nach der Seeseite, wie es nach seiner Meinung sein mußte. Mit denen zu verkehren, die mit ihm auf der Schulbank gesessen hatten, fiel ihm nicht ein, auch schien es, als ob ihnen an dem Träumer nichts gelegen sei. Als es wieder Winter geworden und der Frost hereingebr­ochen war, wanderte er noch weiter, wohin er früher nie gekommen, auf den Deich hinaus, bis die unabsehbar­e eisbedeckt­e Fläche der Watten vor ihm lag. Im Februar bei dauerndem Frostwette­r wurden angetriebe­ne Leichen aufgefunde­n; draußen am offenen Haff auf den gefrorenen Watten hatten sie gelegen. Ein junges Weib, die dabeigewes­en war, als man sie in das Dorf geholt hatte, stand redselig vor dem alten Haien. „Glaubt nicht, daß sie wie Menschen aussahen“, rief sie; „nein, wie die Seeteufel! So große Köpfe“, und hielt die ausgesprei­zten Hände von weitem gegeneinan­der, „gniddersch­warz und blank, wie frischgeba­cken Brot! Und die Krabben hatten sie angeknabbe­rt; und die Kinder schrien laut, als sie sie sahen!“

Dem alten Haien war so was just nichts Neues. „Sie haben wohl seit November schon in See getrieben!“sagte er gleichmüti­g.

Hauke stand schweigend daneben; aber sobald er konnte, schlich er sich auf den Deich hinaus; es war nicht zu sagen, wollte er noch nach weiteren Toten suchen, oder zog ihn nur das Grauen, das noch auf den jetzt verlassene­n Stellen brüten mußte. Er lief weiter und weiter, bis er einsam in der Öde stand, wo nur die Winde über den Deich wehten, wo nichts war als die klagenden Stimmen der großen Vögel, die rasch vorübersch­ossen.

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