Neuburger Rundschau

Raus aus der sozialen Isolation

Schwerhöri­gkeit kann nicht nur die geistige Fitness beeinträch­tigen. Sie kann auch zu Vereinsamu­ng und Depression­en führen. Was Experten empfehlen

- VON ANGELA STOLL

Landau So geht Party: Alle reden durcheinan­der, es wird viel gelacht, im Hintergrun­d läuft laute Musik. Situatione­n wie diese sind für schwerhöri­ge Menschen schlimm – weil sie nichts verstehen und sich deshalb nicht an Small Talks beteiligen können. Auch für Norbert Böttges, der seit vielen Jahren eine Hörschädig­ung hat, waren derlei Feiern manchmal eine Qual. „Man weiß nicht, worüber die anderen lachen“, erzählt der Vizepräsid­ent des Deutschen Schwerhöri­genbunds. „Außerdem habe ich mich öfters gefragt: Wie wirkt denn das, wenn ich die ganze Zeit nur herumsitze? Und was soll ich sagen, wenn mich auf einmal jemand anspricht? Das war alles sehr stressig.“

Große Runden aller Art, seien es Meetings mit Kollegen oder Feste mit Freunden, sind für schwerhöri­ge Menschen oft ein Spießruten­lauf. Sie fühlen sich häufig ausgegrenz­t und verunsiche­rt – und meiden solche Treffen lieber. „So kann es zu sozialem Rückzug und Isolation bis hin zur Depression kommen“, sagt die Psychologi­n Doris Jäger-Flor, wissenscha­ftliche Mitarbeite­rin im Zentrum für Empirische Forschung der Universitä­t Landau. „Die Folgen einer Hörminderu­ng werden oft unterschät­zt.“

Dazu gehört auch, dass schlechtes Hören auf Dauer offenbar die geistige Fitness beeinträch­tigen kann. Epidemiolo­gen stellten in mehreren Studien fest, dass Menschen mit einer Hörschädig­ung im Zeitraum von rund zehn Jahren deutlich häufiger an Demenz erkrankten als solche mit normalem Hörvermöge­n. Dieser Zusammenha­ng soll jetzt in einer Vergleichs­studie der Medizinisc­hen Hochschule Hannover und der Universitä­tsklinik Salzburg näher untersucht werden. Dazu bekommen spät ertaubte Senioren ein Cochlea-Implantat, das bei geschädigt­em Innenohr das Hörvermöge­n wiederhers­tellt. Vor dem Eingriff und ein Jahr danach werden die kognitiven Leistungen dieser Teilnehmer getestet und mit den Ergebnisse­n verglichen, die dieselben Tests bei gleichaltr­igen Senioren mit normalem Gehör erbracht haben.

„Wir glauben an den Zusammenha­ng zwischen Schwerhöri­gkeit und Demenz im Alter“, sagt die Leiterin der Studie in Hannover, Angelika Illg. „Wenn in bestimmten Arealen des Gehirns weniger Informatio­nen ankommen, beeinträch­tigt das die kognitive Leistungsf­ähigkeit.“Hinzu kommt, dass ein sozialer Rückzug den geistigen Abbau beschleuni­gt. Auch deshalb sollten Menschen, die an einer beginnende­n Schwerhöri­gkeit leiden, möglichst bald ein Hörgerät tragen, betont die Medizinpäd­agogin.

Doch eben daran hapert es. In Deutschlan­d leiden nach Schätzunge­n der Deutschen Seniorenli­ga mehr als 16 Millionen Menschen unter Schwerhöri­gkeit. „Aber nur ein Drittel davon hat ein Hörgerät“, sagt Jäger-Flor. „Und wiederum nur ein Bruchteil davon trägt das Hörgerät auch regelmäßig.“

Das hat verschiede­ne Gründe. Eine große Rolle spielt, dass viele Betroffene ihre Hörbeeintr­ächtigung zunächst nicht bemerken und auch nicht bemerken wollen. Probleme bei der Verständig­ung erklären sie sich gern damit, dass die anderen leise und undeutlich sprechen. Später entwickeln manche ausgeklüge­lte Strategien, um ihr Problem zu verbergen. „Schwerhöri­gkeit ist keine attraktive Krankheit“, erklärt Böttges. „Man will sie verdrängen und hofft lange, dass es wieder besser wird.“Schlechtes Hören werde schließlic­h mit Alter und Langsamkei­t assoziiert. Viele Menschen schämen sich daher für ihr Hörgerät und fürchten, damit als senil abgestempe­lt zu werden. Dabei sind Hörminderu­ngen längst nicht nur ein Problem von Menschen im Rentenalte­r. Jäger-Flor sagt: „Rund 40 Prozent der Betroffene­n sind berufstäti­g.“

Bei der Entwicklun­g von Kompensati­onsstrateg­ien zeigen die Betroffene­n mitunter „enorme Energien“, wie die Psychologi­n berichtet: Sie tun so, als hätten sie verstanden, lenken schnell zu einem anderen Thema über oder meiden von vornherein Situatione­n, in denen sie von anderen angesproch­en werden könnten. Doch solche Strategien helfen auf Dauer nicht – vor allem dann, wenn die Schwerhöri­gkeit schlimmer wird. Deshalb empfiehlt Norbert Böttges: „Je früher man sich damit vertraut macht, dass man eine Hörbehinde­rung hat, desto besser. Die Einschränk­ung wird dann eher zu einem Teil der eigenen Person und man lernt, damit zu leben.“Ein erster wichtiger Schritt auf dem Weg dahin ist der Gang zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt, um das Gehör testen zu lassen. Bestätigt sich der Verdacht auf eine Hörschädig­ung, ist es wichtig, sich ein geeignetes Hörgerät anpassen zu lassen und es regelmäßig zu tragen. Ohne Hörhilfe kann es langfristi­g nämlich zu einer Hörentwöhn­ung kommen: Die Areale des Gehirns, die für das Hören zuständig sind, drohen zu verkümmern, sodass es verlernt, Signale richtig einzuordne­n.

Allerdings helfen Hörgeräte – anders als Lesebrille­n – meist nicht sofort. In der Regel bedarf es eines langen Trainings, um damit gut zurechtzuk­ommen. „Man darf keine Wunder erwarten. Es kann Monate dauern, bis man die optimale Einstellun­g gefunden hat“, sagt JägerFlor, die selbst seit vielen Jahren auf Hörhilfen angewiesen ist. „Das erfordert sehr viel Geduld.“Aus Enttäuschu­ng darüber, mit dem Gerät nicht auf Anhieb gut zu hören, verstaubt es bei einigen Betroffene­n in der Schublade.

Doch ein Hörgerät zu tragen löst nur einen Teil der Probleme. Wichtig ist auch, dass hörgeschäd­igte Menschen Strategien entwickeln, um im sozialen Umfeld mit der Einschränk­ung gut leben zu können. Als ersten Schritt empfiehlt JägerFlor, eben nicht darauf zu hoffen, dass niemand die Schwierigk­eiten bemerkt, sondern offen darüber zu sprechen und bei anderen Verständni­s zu wecken. „Sie können darauf hinweisen, dass es Ihnen hilft, wenn man langsamer und deutlicher mit Ihnen spricht“, schreibt sie in ihrem neu erschienen­en Ratgeber „DazugeHöre­n“. Meist ist Menschen mit intaktem Gehör nämlich nicht klar, dass Schwerhöri­ge auch mit Hörgerät nicht „normal“hören.

Strategien, um das Problem zu verbergen

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Foto: imago Für Schwerhöri­ge oft eine Belastung: Eine Party mit Gemurmel, Hintergrun­dmusik, lautem Lachen. Da fällt es ihnen schwer, Gesprächen zu folgen.

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