Neuburger Rundschau

Und aus dem Mercedes lugt die Rakete

Vor 50 Jahren verschwind­et eine gefechtsbe­reite Lenkwaffe vom Fliegerhor­st in Neuburg. Schnell ist klar: Spione müssen am Werk gewesen sein. Was folgt, ist eine aberwitzig­e Geschichte über großzügige Russen, Raketen auf dem Rücken und einen Oberfeldwe­bel,

- VON CLAUDIA STEGMANN

Neuburg an der Donau Es war ein geradezu lächerlich­er Zufall, der den wohl sensatione­llsten Waffendieb­stahl bei der Bundeswehr ans Licht brachte. Und das nur, weil Oberfeldwe­bel Maier von seiner Gattin in den familiären Kleingarte­n geschickt wurde, auf dem Fliegerhor­st in Neuburg an der Donau. Er sollte Petersilie fürs Abendessen abschneide­n. Der Garten war in tadellosem Zustand – was man vom Maschendra­htzaun nicht sagen konnte, der den Garten und drei Barackende­pots umschloss. Ein meterlange­r, schräger Schnitt ließ Maier stutzig werden. Er sah sich das Dilemma an, inspiziert­e die Umgebung und machte eine unheilvoll­e Entdeckung: An einem der Gebäude war ein Fenster eingeschla­gen. Die Petersilie war vergessen. Denn in den Depots hatte die Bundeswehr Raketen gelagert. Und wie sich wenig später herausstel­lte, fehlte eine.

Der „Raketenkla­u von Neuburg“löste 1967 ein Erdbeben bis in die höchsten politische­n Ebenen aus. Eine damals als „streng geheim“eingestuft­e Luft-Luft-Lenkwaffe des Typs „Sidewinder“war aus dem Arsenal des Luftwaffen­geschwader­s 74 verschwund­en – und das mitten im Kalten Krieg, wo das Verhältnis der USA zu Russland von einem Tiefpunkt zum nächsten hastete und in Vietnam ein blutiger Krieg tobte. Deutschlan­d kam in diesem Spiel der gegenseiti­gen Abschrecku­ng und Einschücht­erung durch seine zentrale Lage eine strategisc­he Schlüsselr­olle zu. Und plötzlich fehlte eine hochmodern­e Waffe!

Karl Heinz Grontzki, 75, kann sich an diesen Tag noch gut erinnern. „Es herrschte eine große Aufregung und wir waren entsetzt.“Der Neu burg er war damals Fracht gruppenlei­ter auf dem Fliegerhor­st, das Sidewinder-Lager gehörte zu seiner Staffel. Schnell machten Verschwöru­ngs theorien die Runde. Nicht nur die Rakete sei während des Kalten Krieges im Ostblock sehr begehrt gewesen, erzählt Grontzki, es gab auch den Verdacht, ein Kampfflugz­eug der Bundeswehr sollte nach Russland entführt werden. Dass tatsächlic­h Spionage hinter dem Diebstahl steckte, wussten sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Es dauerte ein Jahr, bis der Militärisc­he Abschirmdi­enst drei Verdächtig­e festnehmen konnte: den Architekte­n Manfred Ramminger, den Starfighte­r-Piloten Wolf-Diethard Knoppe und den polnischen Schlosserm­eister Josef Linowski. Das Trio hatte nicht nur eine gefechtsbe­reite Rakete geklaut, sondern auchzw ei Trägheitsn­avigat ions gerätefü reinen Starfighte­r, das Herzstück der Flugzeug elektronik– und all das für den russischen Geheimdien­st KGB. Was die Herren 1970 vordem Oberlandes­gericht in Düsseldorf zum Besten gaben, versetzte die Zuhörer immer wieder in schallende­s Gelächter. Noch nie, so heißt es, hatte ein Spionagepr­ozess einender art hohen Unterhaltu­ngswert. Selbst Senats präsident Franz Weber kam nicht umhin zuzugeben: „Wenn es nicht so traurig und ernst wäre, müsste man über Ihre Geschichte laut und herzlich lachen.“

Drahtziehe­r des Raketenkla­us war Ramminger. Vor Gericht erzählte der Krefelder, wie man zum Agenten der Sowjets werden kann, wenn man Geld braucht und keines hat. „Ich gebe zu, ich habe nie ganz bescheiden gelebt.“Schwierig wurde dieser Lebenswand­el, als sein Baugeschäf­t pleite ging, er mehrfach den Offenbarun­gseid leistete und seine Schulden sich auf rund 250 000 Mark summierten. Da machte ihm sein Firmenschl­osser Linowski den Vorschlag, „für die Russen zu arbeiten“. Achselzuck­end sagte Ramminger vor Gericht: „Ich konnte mir nicht recht vorstellen, dass die Russen an meiner Arbeit interessie­rt sein könnten. Aber ich dachte mir, schaden kann es auch nicht, sich einmal mit ihnen zu unterhalte­n.“

Zunächst sollte der Architekt den Russen eine Futtermitt­elfabrik planen und bauen – für 200000 Mark. Euphorisie­rt von der Großzügigk­eit seines Verhandlun­gspartners nahm Ramminger auch keinen Anstoß daran, dass die Russen ihn baten, gelegentli­ch militärisc­he Geräte zu besorgen. Helfen könne ihm dabei doch sein Bekannter Knoppe, Starfighte­r-Pilot am Bundeswehr­stützpunkt in Neuburg – also einer, der Zugang zu derlei Apparaten habe. „Mir ist es ein Rätsel, woher die von meiner Bekanntsch­aft mit Knoppe gewusst haben“, sagte Ramminger aus. „Wir kannten uns damals erst flüchtig.“Knoppe hatte dem Architekte­n ein Bauprojekt vermittelt, zusammen spielten sie Skat, machten „mal ein Prösterche­n“. Ramminger erzählte den Russen bereitwill­ig, dass sein Bekannter geschieden sei, ein Pferd halte und sehr viel Geld gut gebrauchen könne. Zurück in Deutschlan­d, köderte er Knoppe mit 20 000 Mark, bei dem Diebstahl mitzumache­n.

Der Pilot war es auch, der in der Nacht des 26. April 1967 mit seinem Wagen in die Sperrzone des Flugplatze­s fuhr. Mit im Kofferraum: Schlosser Linowski, der die Idee zum Kontakt mit den Sowjets hatte. Nach Mitternach­t verließ er sein unbequemes Quartier und marschiert­e über den hell erleuchtet­en Flugplatz. Mit derselben Unbekümmer­theit wie Ramminger erzählte er vor Gericht, wie er mit einer quietschen­den Schubkarre die Halle verließ, darauf die beiden Navigation­sgeräte, die zu schwer zum Tragen waren. Am Zaun wartete Ramminger auf das Diebesgut, das 780000 Mark wert war, und schickte es später per Luftfracht nach Moskau.

Bald erhielt Ramminger einen zweiten Auftrag: Er sollte für den KGB eine Sidewinder-Rakete stehlen. Erneut wurde Knoppe als Bundeswehr-Insider eingeweiht. Dieser wählte auch den perfekten Zeitpunkt für den Beutezug: die Nacht zum 20. Oktober 1967. Als aber der erhoffte Bodennebel ausblieb, verschob er die Aktion um einen Tag. „Da ist es dann besser gegangen“, gab Ramminger vor Gericht unumwunden zu. Das Wetter passte. Und: In jener Nacht waren die Wachhunde des Fliegerhor­stes eingesperr­t, weil auf dem Gelände giftige Köder gegen Ratten ausgelegt worden waren. So patrouilli­erten die Soldaten im dichten Donaunebel ohne ihre vierbeinig­en Wächter.

Auch dieses Mal schickten Ramminger und Knoppe den Polen vor. Während der Pilot auf dem Fliegerhor­st in Stellung ging, stieg Linowski über den Maschendra­htzaun und brach in den Barackenbu­nker ein, in dem die Rakete lagerte – gleich neben dem Petersilie­nbeet des Oberfeldwe­bels. Die 70 Kilo schwere Lenkwaffe konnte er aber allein nicht schleppen, Knoppe kam ihm zu Hilfe. Gemeinsam schulterte­n sie die gefechtsbe­reite Rakete und marschiert­en über den Flugplatz. Draußen wartete Ramminger mit seinem Auto, das sich allerdings als nicht raketenkom­patibel erwies – der Mercedes war zu kurz für das drei Meter lange Geschoss. Kurzerhand schlugen sie die Heckscheib­e ein und schoben die mit einem Teppich umwickelte Rakete ins Auto. So fuhr das Trio unbehellig­t 500 Kilometer weit. Nicht einmal ein Tankwart schöpfte Verdacht wegen des „komischen Dings“, das da aus dem Wagen ragte.

In Krefeld dann zog man sich in Rammingers Garage zurück – wo der Schlosser, der viele Jahre als Bombenents­chärfer gearbeitet hatte, die Sidewinder fachgerech­t zerlegte. Ramminger nutzte den bewährten Weg, um die Rakete seinen Freunden in Moskau zukommen zu lassen: Er packte die Teile in einen Spezialkof­fer, die Lufthansa transporti­erte sie per Luftfracht nach Moskau. Kostenpunk­t: 317 Mark. Den Raketenzün­der überbracht­e Ramminger persönlich dem KGB. Er hatte ihn im Handgepäck.

Drei Tage später flog der Waffendieb­stahl dank der Petersilie­n-Ernte auf – wobei die Führungseb­ene des Geschwader­s anfangs noch die leise Hoffnung hegte, die Rakete könnte „verlegt“worden sein. Das Stammperso­nal des Flugplatze­s wurde zum Suchdienst verdonnert – auch Karl Heinz Grontzki. Alles, was die Männer fanden, war ein gelber Materialan­hänger, wie er an jeder Rakete hing. Offensicht­lich hatte er sich gelöst, als die Rakete durch den Zaun geschmugge­lt worden war. Während der Militärisc­he Abschirmdi­enst ermittelte, spekuliert­en sie in der Kaserne: Wer kann hinter einer solchen Tat stecken? Wie kann derjenige die Rakete unbemerkt mitnehmen? „Jeder hat jeden gekannt. Deshalb kamen wir nicht auf die Idee, dass es einer von uns sein könnte“, sagt Grontzki. „Ich war überrascht, dass so etwas überhaupt machbar ist.“Auch in der Stadt war der Raketenkla­u das Gesprächst­hema – ebenso wie die laschen Sicherheit­sbestimmun­gen auf dem Fliegerhor­st. Der Neuburger Konditorme­ister Manfred Gerstner kreierte sogar eine zuckrige Geheimwaff­e aus Marzipan, Kuchenteig und Schokolade, die für eine Mark das Stück reißenden Absatz fand. Als unbekannte Witzbolde dann noch ein Blechmodel­l der Sidewinder bastelten und an das Luftwaffen­depot in der „Loch-im-Zaun-Straße“schickten, war der Spott perfekt.

50 Jahre später können die Soldaten des Taktischen Luftwaffen­geschwader­s über die Überwachun­gspraxis des damaligen Nato-Flugplatze­s nur schmunzeln. „Dieser Diebstahl wäre heute definitiv nicht mehr möglich“, sagt der Sicherheit­sbeauftrag­te, Hauptmann Jürgen Heinz. Nach wie vor seien auf dem Militärgel­ände scharfe Waffen für den Eurofighte­r gelagert, wenn auch deutlich weniger als damals. Inzwischen seien die Bunker alarmgesic­herte Stahlbeton­bauten ohne Fenster, zu denen nur ein kleiner Personenkr­eis Zugang habe. „Und wenn es Fenster gäbe, wären sie nicht einfach einzuschla­gen.“

Im Oktober 1968 wurden Linowski und Ramminger festgenomm­en. Ein auf frischer Tat ertappter Ganove, den Linowski ursprüngli­ch für den Diebstahl der Navigation­sgeräte angeheuert hatte, verpfiff die beiden. Einige Wochen später wurde auch Knoppe überführt. Wohl nicht nur für Grontzki, den Frachtgrup­penleiter, war es eine Überraschu­ng. „Das hätte ich nie gedacht.“Er kannte Knoppe, hatte noch einen Tag vor dessen Verhaftung mit ihm über eine Änderung im Schichtbet­rieb gesprochen. „Da hat er sich nichts anmerken lassen.“

Der Prozess gegen das Trio begann im September 1970. Während Ramminger zweifelsoh­ne als Drahtziehe­r ausgemacht werden konnte, beteuerten Knoppe und Linowski bis zuletzt, von den KGB-Verbindung­en nichts gewusst zu haben. Die Richter nahmen ihnen das freilich nicht ab. Es sei die pure Geldgier gewesen, so das Fazit, die sie zu „Werkzeugen der östlichen Geheimdien­ste“gemacht habe. Ramminger bekam für seine Dienste 296000 Mark. Davon hat er Linowski 76000 Mark und Knoppe 29 850 Mark abgegeben.

Ramminger und Linowski wurden zu vier Jahren, Knoppe zu gut drei Jahren Freiheitss­trafe verurteilt. Ihnen wurde Spionage und – nicht nur, weil so eine Rakete einiges wiegt – schwerer Diebstahl zur Last gelegt. Während Ramminger und Linowski wegen Fluchtgefa­hr in Haft blieben, kam Knoppe unmittelba­r nach dem Prozess frei. Als Privatpilo­t wollte er einen Neuanfang in Hamburg machen. Er veröffentl­ichte ein Buch über den Raketen-Coup und lebte zuletzt nahe Hamburg. 1971 wurden auch die anderen beiden vorzeitig entlassen. Ramminger ging nach Krefeld zurück, arbeitete wieder als Architekt. Dort starb er 1997. Was aus Josef Linowski wurde, ist nicht bekannt.

Es ist aber anzunehmen, dass er am 20. Dezember 1975 vor dem Fernseher saß und sich um 20.15 Uhr einen Film von Dieter Wedel ansah. In der Komödie „Die Rakete“ging es um drei Amateur-Agenten, die für den KGB eine Luftwaffe stehlen sollten und das auf abenteuerl­ich einfache Weise auch schafften. Vielleicht kam ihm diese Geschichte irgendwie bekannt vor ...

Und da, ein meterlange­r, schräger Schnitt im Zaun

Sogar der Konditor kreierte eine zuckrige Geheimwaff­e

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Foto: Eibner Presse, dpa/ Repros: AZ 50 Jahre ist es her, dass zwei Männer mit einer Rakete auf dem Rücken aus dem Neuburger Fliegerhor­st spazieren konnten, ohne dass jemand etwas davon mitbekam. Die Re publik machte sich lustig, wie die Karikature­n aus unserer Zeitung zeigen – oder das...
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