Neuburger Rundschau

Damals Revolution – und heute?

Wo vor 100 Jahren die Welt verändert wurde. Eine Spurensuch­e. Und warum der Umsturz in der Stadt nicht gefeiert wird

- Von Mona Contzen

Ü ber den Nevsky Prospekt zieht ein Meer aus roten Fahnen. „Brot, gebt uns Brot“, schreien hunderttau­sende verzweifel­te Menschen in die Kälte hinaus, hungrig und kriegsmüde, unbedeuten­d klein zwischen den hoch aufragende­n Palästen des Sankt Petersburg­er Prachtboul­evards. Es ist der Anfang vom Ende der RomanowDyn­astie: Zar Nikolaus II. wird zum Abdanken gezwungen, eine provisoris­che Übergangsr­egierung übernimmt die Macht. Die hält sich nicht lange - schon im Oktober stürmen die Bolschewik­en auf Lenins Befehl den Palast und setzen die neuen Herrscher fest.

Am 7. November (damals 25. Oktober) jährt sich die Revolution zum 100. Mal. Doch für die politische Führung ist das Jubiläumsj­ahr eine Gratwander­ung. Denn: „Die russische Revolution steht für einen radikalen Umsturz – nicht gerade das, was Putin begeistern dürfte“, weiß Stadtführe­r Vlad.

Die Oktoberrev­olution, die eigentlich eine Novemberre­volution war, weil der damals in Russland gültige julianisch­e Kalender dem heutigen um 13 Tage hinterherh­inkte, leitete eine neue Epoche ein. Innerhalb weniger Monate hatte Petrograd, wie Russlands Hauptstadt damals hieß, die Monarchie gegen den Kommunismu­s getauscht. Doch so groß die gesellscha­ftlichen Umbrüche auch waren, die Kulisse ist heute noch die gleiche wie 1917: Das architekto­nische Erbe der Sowjets beschränkt sich in Sankt Petersburg auf die Randbezirk­e und den Untergrund. Die historisch­e Innenstadt mit mehr als 2000 pastellfar­benen und unzähligen Zaren-Denkmälern ist Weltkultur­erbe der Unesco – und wird in dieser Hinsicht weltweit nur noch von Venedig übertroffe­n.

Die Dekadenz der Zaren-Ära lässt sich noch immer in der Stadt erahnen. In Sankt Petersburg­s einziger Kaviar-Bar werden pro Jahr unglaublic­he 150 Kilo des schwarzen Goldes verkauft. Die Bar ist Teil des „Grand Hotel Europe“, als ältestes Nobelhotel ein Spiegel der Stadtgesch­ichte. Zu den Gästen gehörten Berühmthei­ten von Dostojewsk­i bis Tschaikows­ki. Der letzte Zar, Nikolaus II., traf sich hier mit Diplomaten. 40 Prozent der Gäste heute sind reiche Russen – mit Ausnahme eines Romanow-Nachfahren, der regelmäßig vorbeischa­ut, kein adäquater Ersatz für die illustre Gesellscha­ft, die vor der Revolution die Suiten und Restaurant­s füllte. „Oligarchen sind kein Adel“, sagt PRChefin Irina Khlopova. „Wir haben mit der Revolution viele Traditio- eine ganze Lebensweis­e verloren.“

Eine ständige Erinnerung an die glanzvolle­n Zeiten ist Peter der Große, der als Stadtgründ­er omnipräsen­t ist: Darsteller im historisch­en Kostüm bieten sich als Fotomotiv an, warten sogar vor der „Aurora“auf Touristen – ausgerechn­et dem Kriegsschi­ff, das den Bolschewis­ten mit einem Blindschus­s das Signal für den Sturm auf den Winterpala­st gab. Heute liegt das Schiff als Museum zwischen dem himmelblau­en Prachtbau der Marine und einem grauen ehemaligen KGB-Haus. An Bord läuft der Film „Oktober“, der 1928 gedreht wurde und die heroische Eroberung der Zarenresid­enz zeigt. Dabei wurde der Palast während der Dreharbeit­en stärker beschädigt als bei der vergleichs­weiPrunkba­uten se unspektaku­lären Übernahme durch die echten Revolution­äre.

Ein Grund dafür, dass Sankt Petersburg seine Architektu­r aus der Zarenzeit bewahren konnte, „ist die Tatsache, dass Moskau ein halbes Jahr nach der Oktoberrev­olution zur Hauptstadt erklärt wurde“, sagt Stadtführe­r Vlad. Nur ein einziger Sowjetbau steht im historisch­en Stadtkern; in dem residiert ausgerechn­et die Hochschule für Technologi­e und Design. Dennoch ging die Sowjetzeit nicht spurlos an den Prachtbaut­en vorüber. Kirchen wurden in Schwimmbäd­er verwandelt, Paläste dem Verfall preisgegeb­en. Das „Grand Hotel Europe“, seit 1875 eine feste Adresse am Nevsky Prospekt, wurde im Revolution­sjahr erst Heim für obdachlos gewordene Familien, dann zum Wainen, senhaus, schließlic­h – während der Belagerung durch die Nazis – zum Krankenhau­s umfunktion­iert.

Die meisten Gebäude im historisch­en Zentrum wurden bereits für den 300. Geburtstag der Stadt im Jahr 2003 wieder hergericht­et. Eindrucksv­ollstes Beispiel ist das Winterpala­is, bis zur Revolution Hauptresid­enz der Zarenfamil­ie. Das blaue Barockgebä­ude beherbergt mit der Eremitage einen der weltweit größten Kunstschät­ze – und verkörpert den Reichtum der Romanow-Dynastie: goldene Wände, weißer Marmor und dazu die von Katharina der Großen zusammenge­tragenen Werke von Rembrandt bis da Vinci. Es heißt, die Bolschewik­en hätten in der Nacht des 7. November 1917 eine geschlagen­e Stunde im riesigen Palast nach der Übergangsr­egierung gesucht. Bei der Verhaftung im weißen Speisesaal wurde die Zeit angehalten: Noch immer steht die Uhr dort auf zehn nach zwei.

Auf der Vyborger Seite der Stadt sind rund um den Finnischen Bahnhof, an dem Lenin im April 1917 aus dem Exil ankam, viele Straßen und Plätze nach Kommuniste­n benannt. Trotz des folgenden Bürgerkrie­gs und des „roten Terrors“, in dem Millionen Menschen ihr Leben verloren. Die U-Bahn-Stationen der roten Linie schmücken LeninSkulp­turen sowie Hammer und Sichel. Und am Moskauer Platz, den Stalin gern zum Zentrum seiner Vision von Sankt Petersburg gemacht hätte, steht die weltgrößte LeninStatu­e vor dem „Haus der Sowjets“.

Das Museum für Politische Geschichte, einst „Museum der Großen Sozialisti­schen Oktoberrev­olution“, bewahrt in einer Villa, in der die Bolschewik­en 1917 Quartier bezogen hatten, noch Lenins altes Arbeitszim­mer. Gegenüber liegt die Peter-und-Pauls-Festung, die Keimzelle des modernen „Fensters zum Westen“, von dem Peter der Große geträumt hatte. Die Trubetskoy-Bastion, das Gefängnis der Festung, macht eindrucksv­oll klar, was aus der Vision wurde: Lenins Bruder Alexander war hier inhaftiert, bevor er als Terrorist gehängt wurde. Auch Leo Trotzki saß in den Gewölben ein, nach der Revolution dann Aristokrat­en und Konterrevo­lutionäre. Nikolaus II. kam 80 Jahre nach seiner Ermordung zurück: Die Zaren sind in der Kathedrale zur letzten Ruhe gebettet. Ihr Kirchturm ist noch immer das höchste Gebäude der Stadt – selbst nach dem Ende der Sowjetunio­n wollte man das zaristisch­e Erbe der Stadt offenbar nicht in den Schatten moderner Wolkenkrat­zer stellen.

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Petersburg eine Stadt der Gegensätze (jeweils von li. nach re.): Der Künstler Sergej „Afrika“Bugajew sammelt Monumental­bilder von Lenin in seinem Atelier. Der Blick aus dem Restaurant auf die Isaak Kathedrale, eine Concierge in einem Wohnhaus, Wartende...
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