Auferstanden aus Ruinen
Zehn Jahre nach Wiedereröffnung der durch einen Brand zerstörten Sammlung ist die Restaurierung der Bücher noch immer im Gang – und birgt Überraschungen
Weimar Die Schadenbilanz liest sich verheerend. 50 000 Bände sind verbrannt, weitere 25 000 schwer beschädigt; „Aschebücher“werden sie genannt. Noch einmal 37 000 Bände haben Brandspuren oder Flecken vom Löschwasser abbekommen, 56000 sind von Ruß und Rauchgasen gezeichnet. Am 2. September 2004 zerstört der größte Bibliotheksbrand der Nachkriegsgeschichte große Teile der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar, gegründet 1691. In der Schreckensnacht geben mehr als 100 Weimarer Bürger Buch für Buch von Hand zu Hand weiter. Dem damaligen Kulturdirektor der Stadt ist das Bild der Menschenkette bis heute gegenwärtig. „Es war anders als sonst bei einem Brand“, erinnert sich Felix Leibrock. Statt Wassereimer reichten sich die Menschen die kostbaren Stücke aus der Bibliothek zu, in entgegengesetzter Richtung. Zehn Jahre ist es nun her, dass am 24. Oktober 2007 die sanierte Bibliothek mit dem berühmten Rokokosaal wieder eröffnet wurde. Der damalige Bundespräsident Horst Köhler sprach von einem Freudentag für die Kulturnation.
Die Anna Amalia Bibliothek ist eine Archiv- und Forschungsbibliothek par excellence, versichert ihr heutiger Chef, Reinhard Laube, mit dem Schwerpunkt auf der deutschen Literatur der Zeit um 1800. Von den großen deutschen Autoren der Aufklärung, der Klassik, der Romantik und des Vormärz fehlt in der „Wiege der deutschen Klassik“kaum eine Originalausgabe. Laube, von 2013 bis 2016 Direktor der Augsburger Staats- und Stadtbibliothek, ist in Weimar seit einem Jahr im Amt. Auch unter seiner Leitung ist die Restaurierung der geschunde- nen Bücher nach wie vor in vollem Gang. Von den 25000 „Aschebüchern“gilt ein Fünftel als restaurierungsfähig, zusammen macht das stolze 1,2 Millionen Blatt. Sie werden mit einem in Weimar entwickelten Spezialverfahren behandelt, in der eigenen Werkstatt im nahen Legefeld. Das geht Schritt für Schritt, sagt Laube: Nassreinigung, Ergänzung der fehlenden Stücke durch Faserbrei, Überzug durch hauchdünnes Japanpapier und Bindung der stabilisierten Buchseiten als Buch. Eine Dauerausstellung im Erdgeschoss des historischen Gebäudes der Bibliothek erklärt die Prozedur.
Zur Zeit des Brandes gab es diese Technik noch gar nicht. Inzwischen ist sie tausendfach erprobte Routine – mit Überraschungen. Mehr als neun Jahre nach der Katastrophe entdeckten die Mitarbeiter während der Restaurierung in einem grauen Karton die Nürnberger Erstausgabe von „De Revolutionibus Orbium coelestium, Libri VI“von 1543. „Über die Umläufe der himmlischen Kreise in sechs Büchern“gilt als Hauptwerk des Astronomen Nikolaus Kopernikus (1473–1543), der beschrieb, dass sich die Erde um die Sonne dreht, und damit das Weltbild revolutionierte. 1,2 Millionen Euro sei das Buch wert, erklärte die Klassik Stiftung 2013 – so viel, wie die Werkstatt im Jahr kostet.
Etwa 740000 Blatt sind bereits restauriert, rechnet Laube vor. Bis 2024 hätten die Experten in Legefeld noch zu tun. Doch das Geld ist aus seiner Sicht bestens angelegt: Quasi auf die harte Tour lernten die Weimarer, wie ein Bestand konserviert und, wenn nötig, auch restauriert werden kann. Zudem wird digitalisiert, was nur fotografiert und gescannt werden kann. Eine Multispektralkamera macht sichtbar, was durch Nässe verwischt und unleserlich geworden ist. Doch kein „Digitalisat“kann das Original ersetzen, sagt Laube. Kein Buch ist wie das andere. Exlibris, Randnotizen, Gebrauchsspuren und selbst der Ort im Regal, den es sich mit anderen Büchern teilt, machen es einzigartig.
Aber natürlich werden auch neue Bücher angekauft. Fast 17000 waren es im vergangenen Jahr. Viele Schätze der Bibliothek bekommen Besucher allerdings nicht zu sehen. Sie sind im 2005 eingeweihten unterirdischen Magazin und im Studienzentrum mit dem Bücher-Kubus untergebracht. Das historische Gebäude war damals noch eine Baustelle.
Die Bibliothek, die seit 1998 zum Unesco-Weltkulturerbe zählt, zieht die Besucher zehn Jahre nach der feierlichen Wiedereröffnung noch immer fast magisch an. Auch Joachim Gauck ist an einem seiner letzten Tage im Dienst als Bundespräsident an die Ilm gekommen. Fast begegnete er dort dem niederländischen Königspaar: Anfang Februar waren Máxima und Willem-Alexander in Weimar zu Gast. Nach der Bibliotheksbesichtigung speisten sie mit geladenen Gästen im BücherKubus. Nein, eine ganz normale Bibliothek ist die Anna Amalia nicht.