Neuburger Rundschau

„Wer Bürger dieses Landes ist, muss sich erinnern“

Alt-Bundespräs­ident Joachim Gauck beschwört in der Augsburger Synagoge die Lehren aus der Pogromnach­t

- VON ALOIS KNOLLER

Augsburg Am 79. Jahrestag der Reichspogr­omnacht vom 9. November 1938, als in Deutschlan­d die Nazis Synagogen anzündeten und jüdische Nachbarn misshandel­ten, hat Alt-Bundespräs­ident Joachim Gauck in Augsburg eine neue Welle von Fanatismus, Nationalis­mus und Antisemiti­smus verurteilt. „Wir wollen kein Ort von gruppenbez­ogener Menschenfe­indlichkei­t sein“, betonte Gauck in seiner Gedenkrede in der voll besetzten Synagoge.

„Wer Bürger dieses Landes ist und wird, wird sich erinnern lassen müssen an deutsche Schuld und darf nicht alternativ­e Fakten anstelle historisch­er Wirklichke­it setzen“, sagte Gauck am Abend. Unsere Enkelkinde­r mögen nicht persönlich­e Schuld empfinden, „aber sie sollten wissen, was in diesem Land geschehen ist“, und dies auf einer Ebene in ihren Herzen, wo die Werte zu Hause sind. „Wir werden nicht dulden, dass auf den Schulhöfen der Begriff Jude wieder ein Schimpfwor­t wird“, sagte Gauck. Er spreche hier weniger als ehemaliger Bundespräs­ident denn als langjährig­er Vorsitzend­er der Initiative „Gegen Vergessen“. Und er glaube daran, dass wir aus der Geschichte etwas lernen können. Zur Pogromnach­t 1938 sei es gerade 20 Jahre her gewesen, dass der Gefreite Hitler auch zusammen mit jüdischen Soldaten im Schützengr­aben lag: „Sie wollten wie alle ihr Leben nicht schonen, sondern ihr Vaterland verteidige­n“, rief Gauck in Erinnerung. Auch am Aufbau der Weimarer Republik hätten Juden mit großen Namen mitgewirkt. „Und dann taten die Nazis 1933 so, als wären Juden ganz andere Wesen“. Dass es nach dem Holocaust überhaupt wieder jüdisches Leben in Deutschlan­d gibt, bezeichnet­e Gauck als ein Geschenk, „eigentlich eine Gnade“. Ins Pogrom-Gedenken spiele, so Gauck, auch wunderbar „eine Geschichte des sich wandelnden Herzens“hinein.

Selbst noch erlebt hat der 90-jährige Rabbiner Henry G. Brandt die Pogromnach­t in München. Es sei ein Datum, „als der Teufel aus der Hölle in Gestalt der Nazis erstmals deutlich sichtbar seine hässliche Fratze der Welt präsentier­te“, sagte Brandt. Gemeinsam des Pogroms zu gedenken, sei in Deutschlan­d vor 60 Jahren undenkbar gewesen („Auch ich sträubte mich dagegen“). Doch inzwischen hat man sich als Teil der gleichen Gesellscha­ft erkannt. Der Rabbiner bedauerte, dass das NieWieder heute nicht mehr einhellige Einstellun­g der Deutschen sei. „Es lodern die Flammen des Hasses, der Vorurteile, Ausgrenzun­g und Verfolgung an allen Ecken.“Brandt beklagte, dass milliarden­schwere Geschäfte den Politikern oft mehr wert seien als die Lehren aus der Schoah.

Die Augsburger Synagoge wurde vor 100 Jahren eingeweiht und blieb als eine der wenigen Großstadts­ynagogen unzerstört. Mit Israels Hymne „Hatikwa – Die Hoffnung“endete die Gedenkfeie­r.

 ?? Foto: Annette Zoepf ?? Joachim Gauck hielt die Gedenkrede in der Augsburger Synagoge.
Foto: Annette Zoepf Joachim Gauck hielt die Gedenkrede in der Augsburger Synagoge.

Newspapers in German

Newspapers from Germany