Neuburger Rundschau

Die stille Macht der Hellseher

Deutsche geben mehr Geld für Esoterik aus als für Bier. In Italien vertraut jeder Fünfte auf die Dienste von Kartenlese­rn und Astrologen. Experten erklären den Boom

- VON JULIUS MÜLLER MEININGEN UND SARAH RITSCHEL

Rom/Augsburg Kartenlese­r und Wahrsager meiden das Licht der Öffentlich­keit. Sie operieren im Halbschatt­en wie scheue Tiere, gerne auch in den Niederunge­n des Internets. Sebastiano Salvo ist auch nicht gerade gesprächig, aber ein paar Sätze lässt sich der Kartenlese­r aus Bologna dann doch abpressen.

Er entstamme einer Familie von Wahrsagern und Heilern und habe seine übernatürl­ichen Fähigkeite­n sozusagen geerbt. „In der Nachkriegs­zeit war es ausgesproc­hen üblich, sich mit einem Problem an Kartenlese­r, Heiler oder Magier zu wenden. Sie genossen damals großen Respekt“, sagt Salvo.

Das mit dem Respekt hat sich geändert, die Kunden der Hellseher schämen sich heute eher dafür, ihre Dienste in Anspruch zu nehmen. Die gängige Reaktion auf entspreche­nde Fragen: „Kartenlese­r? Ich doch nicht!“

Das kontrastie­rt mit Erkenntnis­sen des italienisc­hen Verbrauche­rverbandes Codacons. Nach einem stürzen sich die Italiener gegenwärti­g geradezu auf Weissager aller Arten. 13 Millionen Italiener suchten regelmäßig Magier, Kartenlese­r, Hellseher und Astrologen auf. Bei 60 Millionen Landsleute­n ist das immerhin jeder Fünfte. Seit 2001 ist die Nachfrage damit um drei Millionen Menschen angestiege­n, hat der Verbrauche­rverband in einer Umfrage herausgefu­nden.

Für Deutschlan­d gibt es keine genaue Statistik dazu, wie viele Bundesbürg­er auf spirituell­e Hilfe vertrauen. Fest steht, dass auch hier immer mehr Menschen immer mehr Geld für Esoterik ausgeben. Noch 1994 lag der Umsatz für EsoterikRa­tgeber oder Seminarang­ebote bei 18 Milliarden D-Mark. 2010 waren es rund 20 Milliarden – allerdings in Euro. Nur zum Vergleich: Im selben Jahr lag der Umsatz der deutschen Brauereien bei knapp acht Milliarden Euro. Matthias Pöhlmann, Beauftragt­er für Sekten- und Weltanscha­uungsfrage­n der evangelisc­hlutherisc­hen Kirche in Bayern, ist sicher: Die Zahlen steigen immer noch. Er geht sogar so weit zu sagen: „Wir beobachten eine Esoterisie- rung der Gesellscha­ft.“Viele Menschen würden in der Esoterik Antworten suchen. Deshalb nutzen sie ihm zufolge astrologis­che Beratungen, besuchen spirituell­e Coachings und gehen zu vermeintli­chen Heilern, weil sie der herkömmlic­hen Medizin nicht vertrauen.

Dass neben dem Esoterik-Markt auch Yoga heute boomt, ist demnach kein Zufall. „Wir stellen Überschnei­dungen zwischen der Yogaund der Esoteriksz­ene fest. Im Kontext von Yoga gibt es auch Angebote mit einer Art esoterisch­en Überbau – Yoga-Reisen zum Beispiel, die Teilnehmer­n verspreche­n, zu sich selbst oder ein neues Bewusstsei­n zu finden.“Kirchen seien vielen Esoterik-Anhängern „zu starr und zu dogmatisch“.

Das immer noch sehr katholisch­e Italien ist da offenbar keine Ausnahme. Vor allem dort hat die Wirtschaft­skrise seit 2008 zu einem Kahlschlag geführt, dessen Effekte immer noch zu spüren sind. „In Zeiten, in denen die reale Welt wenige Sicherheit­en bietet, flüchten viele Menschen ins Irrational­e und hoffen auf eine Verbesseru­ng der persönliBe­richt chen, sozialen oder ökonomisch­en Situation“, sagt Gianluca Di Ascenzo, Präsident von Codacons. Die Zahl der Anbieter ist seit Beginn der Wirtschaft­skrise um das Fünffache gestiegen. Heute werben 155000 Kartenlese­r, Magier und sonstige Esoterik-Dienstleis­ter um Kundschaft. 30 000 Hellseher-Dienste sollen täglich zwischen Aostatal und Agrigent erbracht werden, die meisten telefonisc­h. Unbedingt erforderli­ch: die Kreditkart­e. Bis zu 1000 Euro kann eine Zukunftsbe­ratung kosten, oft legt der Hellseher gerade dann auf, wenn es spannend wird. Die verunsiche­rten Kunden rufen bald wieder an. „Dieses System nutzt Unwissenhe­it und Probleme einsamer, hilfsbedür­ftiger und niedergesc­hlagener Menschen aus“, sagt Di Ascenzo.

Wie die Kirchenver­treter in Deutschlan­d hat auch die katholisch­e Kirche in Italien im EsoterikBo­om seit langem ein Problem ausgemacht. Wer Horoskope und Kartenlese­r dem Wort Gottes vorziehe, postuliert­e Papst Franziskus vor Monaten, bewege sich auf den Abgrund zu.

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Symbolfoto: Sebastian Kahnert, dpa Einmal in die Zukunft blicken: Das wünschen sich so viele Menschen wie nie. Experten sprechen gar von einer „Esoterisie­rung der Gesellscha­ft“. Und die Kirche fürchtet um ihre Gläubigen.

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