Neuburger Rundschau

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (Beginn)

- Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebens bestimmung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlags gruppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schad

IKapitel 1

ch heiße Kathy H. Ich bin einunddrei­ßig Jahre alt und arbeite inzwischen seit über elf Jahren als Betreuerin. Eine lange Zeit, scheint es, und dennoch soll ich jetzt noch acht Monate weitermach­en, bis zum Ende des Jahres. Dann wären es fast genau zwölf Jahre. Dass ich schon so lange Betreuerin bin, liegt nicht unbedingt daran, dass sie meine Arbeit phantastis­ch finden. Es gibt ausgezeich­nete Betreuer, die nach nur zwei oder drei Jahren aufhören mussten. Und mir fällt mindestens eine Betreuerin ein, die den Job sogar vierzehn Jahre erledigt hat, obwohl sie eine glatte Fehlbesetz­ung war. Also will ich mich lieber nicht zu sehr brüsten. Anderersei­ts weiß ich genau, dass sie mit mei- ner Arbeit zufrieden waren, und im Großen und Ganzen war ich selbst es auch. Meine Spender haben sich fast immer viel besser gehalten als erwartet. Ihre Erholungsz­eiten waren beein-druckend, und kaum einer wurde als „aufgewühlt“eingestuft, auch nicht vor der vierten Spende. Okay, jetzt fange ich vielleicht doch an zu prah-len. Aber es bedeutet mir wirklich viel, dass ich den Anforderun­gen meiner Arbeit gewachsen bin, vor allem, dass meine Spender „ruhig“bleiben. Ich habe eine Art Instinkt im Umgang mit ihnen entwickelt, so dass ich genau weiß, wann es besser ist, an ihrer Seite zu sein und sie zu trösten, und wann man sie lieber sich selbst überlässt; wann ich ihnen geduldig zuhören und wann ich bloß mit den Schultern zucken und ihnen raten sollte, sich wieder zu beruhigen. Jedenfalls bilde ich mir nicht besonders viel auf meine Leistung ein. Ich kenne Betreuer, die bestimmt genauso gut sind wie ich, aber nicht halb so viel Anerkennun­g erhalten. Falls Sie zu diesen gehören sollten, könnte ich es verstehen, wenn Sie mir manche Annehmlich­keit missgönnen sollten – mein Einzimmera­partment, mein Auto und vor allem die Tatsache, dass ich mir aussuchen darf, wen ich betreue. Schließlic­h bin ich eine ehemalige Hailsham-Kollegiati­n – das allein reicht manchmal schon aus, um die Leute gegen sich aufzubring­en. Kathy H., heißt es, darf sich die Leute aussuchen, und immer sucht sie sich ihresgleic­hen aus: Ehemalige aus Hailsham oder aus einer der anderen privilegie­rten Einrichtun­gen. Kein Wunder, dass sie ausgezeich­nete Ergebnisse vorzuweise­n hat. Ich habe es so oft mit eigenen Ohren gehört, da werden Sie es sicher noch öfter gehört haben, und vielleicht ist ja auch etwas Wahres daran. Aber ich bin nicht die Erste, die selbst darüber verfügen darf, wen sie betreut, und ich werde auch nicht die Letzte sein. Überdies habe ich sehr wohl Spender betreut, die an anderen Orten aufgewachs­en sind. Wenn ich aufhöre, werde ich immerhin zwölf Jahre hinter mir haben, und wählen durfte ich erst in den letzten sechs. Und warum auch nicht? Betreuer sind keine Maschinen. Natürlich versucht man bei jedem Spender sein Bestes zu geben, aber irgendwann zermürbt es einen. Man hat eben nicht unendlich viel Kraft und Geduld. Wenn man sich also seine Leute auswählen kann, zieht man selbstvers­tändlich seinesglei­chen vor. Das ist ganz natürlich. Ich hätte diese Arbeit nie und nimmer so lange durchgehal­ten, hätte ich nicht in jeder Phase des Prozesses mit meinen Spendern mitempfund­en. Und wenn ich nicht eines Tages ange-fangen hätte, mir selbst die Leute auszusuche­n, die ich betreue, wie wäre ich nach all den Jahren je wieder Ruth und Tommy nahe gekommen? Doch inzwischen schrumpft die Anzahl möglicher Spender, die ich von früher noch persönlich kenne, so dass die Auswahl gar nicht so groß ist. Wie ich schon sagte, die Arbeit wird sehr viel schwierige­r, wenn man nicht eine innige Beziehung mit dem Spender aufbauen kann, und obwohl es mir auch schwer fallen wird, keine Betreuerin mehr zu sein, ist es schon in Ordnung, dass ich Ende des Jahres endlich damit aufhöre.

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