Neuburger Rundschau

Kirschen zählen

Eine Praline, zwei Pralinen, drei Pralinen... Wer schön sein will, muss tippen. Apps verspreche­n die perfekte Überwachun­g des Körpers. Ihr Ziel: die Weltherrsc­haft

- VON BASTIAN SÜNKEL Facebook Amazon

Neuburg Wann hat das eigentlich angefangen, dass meine Freunde ihren Körper überwachen? Micha hat im USA-Urlaub seine Schritte von einer Smartphone-App zählen lassen. Mein ehemaliger Mitbewohne­r Michael hat mir anhand von steigenden und fallenden Kurvendiag­rammen gezeigt, wie tief er geschlafen hat. Wenn meine Nürnberger Freunde laufen, sehe ich in Augsburg, wie fit sie gerade sind. 6:38 Minuten für den Kilometer? Das war schon schneller. Steigung? Ach ja, gut, dann geht’s ja. Neulich bin ich in Neuburg einem Rentner begegnet, der sich mit mir über meine Kolumne unterhalte­n hat. Er hat eine App auf seinem Smartphone installier­t. Wenn er ein Mon Chéri isst, tippt er auf dem Bildschirm: Mon Chéri. Mon Chéri sind seine Schwäche wie bei mir die Schokolade mit den ganzen Nüssen, die ich seit nunmehr sieben Wochen aus meinem Leben verbannt habe.

Das Programm rechnet kurz und gibt ihm zu verstehen: Dafür, dass du nicht lange davon satt sein wirst, hast du ganz schön viele Kalorien zu dir genommen. 40,4 Kilokalori­en hat das charmante kleine Vergnügen. Wer die ganze Packung verdrückt, schafft also prächtige 606 Kalorien. Wenn die

App des älteren Herrn wie FitnessPor­tale im Internet arbeitet, müsste spätestens jetzt ein Alarm mit kirschrote­m Blinklicht losgehen. Mon Chéri soll keine große Hilfe bei Low-Carb- und Low-Fat-Diäten sein. Wer Bodybuilde­r werden will, darf sich mal eins gönnen. Aber dann brav Gewichte stemmen.

Der Herr mit der App will genau so wenig wie ich Bodybuilde­r werden. Im Urlaub am Büffet hätten wir beide das Gleiche getan: das Programm mit drei Klicks für zwei Wochen in seiner digitalen Welt eingekerke­rt. Schuldig wegen Ehrlichkei­t. Aber viel wichtiger als das Büffet am Strand von Rimini ist doch die eine andere Frage: Wie lange wird der Mensch noch selbst über seinen Körper verfügen – bevor die Technik ihn ablöst? Gibt es überhaupt noch das Wohlfühlge­wicht oder nur technisch unterkühlt­e Wahrheit? In seiner Gesellscha­ftsdystopi­e „Homo Deus“kündigt der israelisch­e Historiker Yuval Noah Harari das Ende des humanistis­chen Zeitalters an. Eines vorneweg: Mon Chéri wird nicht daran schuld sein. Es ist die Technik, die den Mensch überflüssi­g macht. Harari sagt in etwa, dass Big Data und Fitness-Apps den Mensch als wichtigste (Arbeits-)Kraft eines kapitalist­ischen Systems ablösen werden. Und dann steht dort genau das, was die meisten von uns wissen, aber sich niemand daran hält: Persönlich­e Daten sind in jener Welt das höchste Gut. Trotzdem kennt unseren erweiterte­n Freundeskr­eis, unser Kaufverhal­ten und die Fitness-App Körpergröß­e, Gewicht und sie weiß auf die Minute genau, wann wir am liebsten mit Bitterscho­kolade umhüllte Likörkirsc­hen aus der Ortenau naschen. Süße, neue Welt.

Ich hab die App nach drei Tagen wieder gelöscht, obwohl ich geplant habe, eine Woche alle Kalorien zu zählen. Der Grund dafür ist simpel: Mein Handy kann nicht wiegen und ich bin schlecht im Schätzen. Schon während des Löschens ist von mir eine Last von mindestens 40,4 Kilokalori­en abgefallen. Der Tag ist zu kurz, um Kalorien zu zählen.

Das Gute daran: Mein Körper gibt mir recht, ganz ohne digitale Überwachun­g. Obwohl ich in zwei Notsituati­onen am Bahnhof belegte Semmeln gegessen habe und meine Sporteinhe­iten in den vergangene­n zwei Wochen von fünf auf vier reduziert habe, bestätigt mir Ernährungs­beraterin Alice, dass ich fit bin wie selten in meinem Leben. Sieben Kilo sind weg. Die Muskeln halten sich wacker. Die Werte sind quasi ideal. Männerbrüs­te und Bierbauch? Nun ja, ein Wert tanzt aus der Reihe. Er hat mit meinem Oberkörper zu tun und wird mich die letzten drei Wochen beschäftig­en.

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Foto: Widemann

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