Kirschen zählen
Eine Praline, zwei Pralinen, drei Pralinen... Wer schön sein will, muss tippen. Apps versprechen die perfekte Überwachung des Körpers. Ihr Ziel: die Weltherrschaft
Neuburg Wann hat das eigentlich angefangen, dass meine Freunde ihren Körper überwachen? Micha hat im USA-Urlaub seine Schritte von einer Smartphone-App zählen lassen. Mein ehemaliger Mitbewohner Michael hat mir anhand von steigenden und fallenden Kurvendiagrammen gezeigt, wie tief er geschlafen hat. Wenn meine Nürnberger Freunde laufen, sehe ich in Augsburg, wie fit sie gerade sind. 6:38 Minuten für den Kilometer? Das war schon schneller. Steigung? Ach ja, gut, dann geht’s ja. Neulich bin ich in Neuburg einem Rentner begegnet, der sich mit mir über meine Kolumne unterhalten hat. Er hat eine App auf seinem Smartphone installiert. Wenn er ein Mon Chéri isst, tippt er auf dem Bildschirm: Mon Chéri. Mon Chéri sind seine Schwäche wie bei mir die Schokolade mit den ganzen Nüssen, die ich seit nunmehr sieben Wochen aus meinem Leben verbannt habe.
Das Programm rechnet kurz und gibt ihm zu verstehen: Dafür, dass du nicht lange davon satt sein wirst, hast du ganz schön viele Kalorien zu dir genommen. 40,4 Kilokalorien hat das charmante kleine Vergnügen. Wer die ganze Packung verdrückt, schafft also prächtige 606 Kalorien. Wenn die
App des älteren Herrn wie FitnessPortale im Internet arbeitet, müsste spätestens jetzt ein Alarm mit kirschrotem Blinklicht losgehen. Mon Chéri soll keine große Hilfe bei Low-Carb- und Low-Fat-Diäten sein. Wer Bodybuilder werden will, darf sich mal eins gönnen. Aber dann brav Gewichte stemmen.
Der Herr mit der App will genau so wenig wie ich Bodybuilder werden. Im Urlaub am Büffet hätten wir beide das Gleiche getan: das Programm mit drei Klicks für zwei Wochen in seiner digitalen Welt eingekerkert. Schuldig wegen Ehrlichkeit. Aber viel wichtiger als das Büffet am Strand von Rimini ist doch die eine andere Frage: Wie lange wird der Mensch noch selbst über seinen Körper verfügen – bevor die Technik ihn ablöst? Gibt es überhaupt noch das Wohlfühlgewicht oder nur technisch unterkühlte Wahrheit? In seiner Gesellschaftsdystopie „Homo Deus“kündigt der israelische Historiker Yuval Noah Harari das Ende des humanistischen Zeitalters an. Eines vorneweg: Mon Chéri wird nicht daran schuld sein. Es ist die Technik, die den Mensch überflüssig macht. Harari sagt in etwa, dass Big Data und Fitness-Apps den Mensch als wichtigste (Arbeits-)Kraft eines kapitalistischen Systems ablösen werden. Und dann steht dort genau das, was die meisten von uns wissen, aber sich niemand daran hält: Persönliche Daten sind in jener Welt das höchste Gut. Trotzdem kennt unseren erweiterten Freundeskreis, unser Kaufverhalten und die Fitness-App Körpergröße, Gewicht und sie weiß auf die Minute genau, wann wir am liebsten mit Bitterschokolade umhüllte Likörkirschen aus der Ortenau naschen. Süße, neue Welt.
Ich hab die App nach drei Tagen wieder gelöscht, obwohl ich geplant habe, eine Woche alle Kalorien zu zählen. Der Grund dafür ist simpel: Mein Handy kann nicht wiegen und ich bin schlecht im Schätzen. Schon während des Löschens ist von mir eine Last von mindestens 40,4 Kilokalorien abgefallen. Der Tag ist zu kurz, um Kalorien zu zählen.
Das Gute daran: Mein Körper gibt mir recht, ganz ohne digitale Überwachung. Obwohl ich in zwei Notsituationen am Bahnhof belegte Semmeln gegessen habe und meine Sporteinheiten in den vergangenen zwei Wochen von fünf auf vier reduziert habe, bestätigt mir Ernährungsberaterin Alice, dass ich fit bin wie selten in meinem Leben. Sieben Kilo sind weg. Die Muskeln halten sich wacker. Die Werte sind quasi ideal. Männerbrüste und Bierbauch? Nun ja, ein Wert tanzt aus der Reihe. Er hat mit meinem Oberkörper zu tun und wird mich die letzten drei Wochen beschäftigen.