Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (2)
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebens bestimmung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlags gruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schad
Dann sagte Ruth: „Er ahnt überhaupt nichts. Schaut ihn euch nur an. Er ahnt wirklich rein gar nichts.“
Ich sah Ruth scharf an und fragte mich, ob sie missbilligte, was die Jungs mit Tommy vorhatten. Doch schon im nächsten Moment lachte Ruth auf und rief: „Dieser Volltrottel!“
Da begriff ich auf einmal, dass für Ruth und die anderen das, was die Jungs planten, nichts mit uns zu tun hatte; ob wir damit einverstanden waren oder nicht, spielte keine Rolle. An den Fenstern standen wir nicht, weil wir uns an dem Anblick weiden wollten, wie Tommy wieder einmal gedemütigt wurde, sondern weil wir eben von dem neuesten Plan gehört hatten und halbwegs – gespannt auf seine Umsetzung waren. Darüber hinaus, glaube ich, interessierte es uns nicht, was die Jungs damals untereinander trieben. Ruth und den anderen war es im Grunde ziemlich gleichgültig, und mir wahrscheinlich ebenso.
Vielleicht trügt mich aber auch die Erinnerung. Vielleicht empfand ich schon damals einen kleinen Stich des Mitgefühls, als ich Tommy über diesen Platz rennen sah, mit unverhohlenem Entzücken, weil die Gruppe ihn wieder aufgenommen hatte; zumal ich ihm ja ansah, wie sehr er sich auf das Spiel freute, in dem er so gut war. Ich weiß es nicht mehr. Was ich allerdings noch genau weiß, ist, dass Tommy an diesem Tag das hellblaue Polohemd trug, das er auf dem Basar im Monat zuvor erstanden hatte – und auf das er schrecklich stolz war. Wirklich blöd, dieses Hemd zum Fußball anzuziehen, dachte ich. Er wird es sich ruinieren, und dann ist das Geschrei wieder groß. Laut sagte ich, an niemand Besonderen gerichtet: „Tommy hat sein Lieblingshemd an. Sein Polohemd.“
Ich glaube nicht, dass mich jemand hörte, denn in dem Moment lachten alle über Laura, den Clown in unserer Gruppe, die Tommys wechselhaftes Mienenspiel imitier- te, während er rannte, winkte, rief und dem Gegner den Ball abjagte. Die anderen Jungen schleppten sich so träge über das Feld, wie es beim Auf wärmen üblich ist, aber Tommy in seiner Aufregung war anscheinend schon in voller Fahrt. Dieses Mal sagte ich etwas lauter als zuvor: „Es wird ihn wahnsinnig machen, wenn er sich dieses Hemd ruiniert.“Ruth hörte mich, dachte aber wohl anscheinend, ich hätte es im Scherz gemeint, denn sie lachte halbherzig und hängte noch irgendeine spitze Bemerkung an.
Inzwischen hatten die Jungs aufgehört, den Ball hin und her zu kicken, und standen in einer Gruppe zusammen im Matsch. Ich sah, wie sich ihre Schultern sanft hoben und senkten, während sie auf die Zusammenstellung der Mannschaften warteten. Die beiden Kapitäne, die jetzt auftauchten, gehörten zur Senior 3, aber jeder wusste, dass Tommy besser spielte als alle aus diesem Jahrgang. Sie warfen eine Münze, wer mit der Wahl anfangen durfte, und der Gewinner musterte die Gruppe.
„Schaut ihn euch an“, sagte jemand hinter mir. „Er ist sich absolut sicher, dass er als Erster ausgesucht wird. Schaut ihn euch bloß an!“
Tatsächlich hatte Tommy in diesem Moment etwas Komisches an sich, das einen unwillkürlich denken ließ: Also gut, wenn er wirklich so dämlich ist, hat er’s nicht anders verdient. Die anderen Jungs taten so, als wäre ihnen diese Wahl völlig gleichgültig, als lasse sie es völlig kalt, wann sie aufgerufen wurden. Manche unterhielten sich halblaut miteinander, andere banden sich die Schuhe neu, wieder andere starrten einfach auf ihre Füße, die im Matsch auf der Stelle traten. Nur Tommy blickte die Senior-3-Jungen so gespannt an, als würde er jeden Augenblick aufgerufen.
Während der ganzen Zeit, in der die beiden Teams zusammengestellt wurden, ahmte Laura unverdrossen Tommys wechselnde Gesichtsausdrücke nach: die leuchtende, eifrige Miene zu Beginn; die Verwirrung und die Besorgnis, als jeweils vier Spieler ausgewählt waren, er jedoch noch nicht; die Kränkung und Panik, als ihm zu dämmern begann, was hier vor sich ging. Ich drehte mich aber nicht ständig nach Laura um, denn ich beobachtete Tommy; was sie tat, merkte ich am Gelächter und an den anfeuernden Bemerkungen der anderen. Dann, als Tommy als Letzter dastand und die anderen schon zu kichern anfingen, hörte ich Ruth sagen:
„Gleich ist es so weit. Wartet. Sieben Sekunden. Sieben, sechs, fünf …“
Weiter kam sie nicht. Tommy brach in ein markerschütterndes Gebrüll aus, und die anderen Jungen lachten jetzt lauthals auf und stürmten zum südlichen Sportplatz davon. Tommy rannte ihnen ein paar Schritte hinterher – es war schwer zu sagen, ob er ihnen im ersten Impuls zornig nachsetzen wollte oder ob er Panik bekam, weil er allein zurückgelassen worden war. Jedenfalls blieb er bald wieder stehen. Er stand da, dunkelrot im Gesicht, und starrte den Jungen nach. Dann begann er zu schreien und zu kreischen, ein wüstes Durcheinander aus Schimpfwörtern und Flüchen.
Da wir Tommys Wutanfälle schon zur Genüge kannten, stiegen wir von den Hockern und verteilten uns im Pavillon. Eigentlich hätten wir uns jetzt gern über etwas anderes unterhalten, aber im Hintergrund ging das Wüten unvermindert weiter, und obwohl wir zuerst die Augen verdrehten und Tommy zu ignorieren versuchten, standen wir schließlich – sicher volle zehn Minuten später – wieder am Fenster. Von den anderen Jungen war weit und breit nichts mehr zu sehen, und Tommy hatte es aufgegeben, seine Schmähungen in eine bestimmte Richtung zu lenken. Er tobte nur, gestikulierte wild, reckte beschwörend die Arme zum Himmel, in den Wind, gegen den nächsten Zaun-pfosten. Laura sagte, vielleicht „probt er seinen Shakespeare“, und eine andere machte uns darauf aufmerksam, dass er bei jedem Aufschrei einen Fuß vom Boden hob und seitwärts stieß, „wie ein pinkelnder Hund“. Ich hatte diese Fußbewegung ebenfalls bemerkt, aber vor allem fiel mir auf, dass bei jedem Aufstampfen der Dreck aufspritzte und um seine Schienbeine flog. Wieder dachte ich an sein kostbares Hemd, aber er war zu weit weg, als dass ich hätte erkennen können, wie schmutzig es schon war. „Es ist wahrscheinlich ein bisschen grausam“, sagte Ruth, „wie sie ihn immer wieder in den Wahnsinn treiben. Aber er ist selber schuld. Wenn er nicht lernt, sich zu beherrschen, werden sie ihn nie in Frieden lassen.“
„Ich glaube nicht, dass es ihm helfen würde“, sagte Hannah. „Graham K. ist genauso jähzornig, aber mit ihm gehen sie umso vorsichtiger um. Auf Tommy haben sie’s deswegen abgesehen, weil er ein faules Stück ist.“
Nun redeten alle durcheinander – dass Tommy nie auch nur den Versuch unternahm, kreativ zu sein, nicht einmal etwas für den Frühjahrstauschmarkt gegeben hatte. In Wahrheit, glaube ich, wünschten wir uns inzwischen wohl alle insgeheim, dass ein Aufseher aus dem Haupthaus hervorkäme und ihn mitnähme.